Essen. Als er starb, hatte er Weltliteratur geschaffen. Es wusste nur niemand, anders als heute. Aber Irrtümer kursieren immer noch über ihn.

Franz Kafkas Leben war fast gar nicht kafkaesk. Sein Tod am 3. Juni vor 100 Jahren war es schon eher. Die Tuberkulose hatte den 1,82 großen Mann mit gerade einmal 40 Jahren auf weniger als 50 Kilogramm abmagern lassen. Eine bittere Analogie zu seiner Geschichte vom Hungerkünstler, der immer weniger wird, bis er unterm Stroh seines Zirkuskäfigs kaum noch auszumachen ist. Wie so oft war Kafka auch mit diesem Text der Wirklichkeit ein Stück voraus. Die propagandistische, Menschen markierende Wirkung von Texten, die unter die Haut gehen, kennt schon die Erzählung „In der Strafkolonie“, die wie seine großen Romane „Der Prozess“ und „Das Schloss“ die machttaktischen und psychologischen Techniken totalitärer Herrschaft schildert.

Für Kafka hätte Dora Diamant die Frau seines Lebens werden können

Im Juli 1923 hatte Kafka bei einem Badeurlaub an der Ostsee in Dora Diamant endlich eine gefunden, die zur Frau seines Lebens hätte werden können – aber sie wurde die Frau, die ihn kaum ein Jahr später im Sterben begleitete. Und an seinem Bett Manuskripte verbrannte, die er vernichtet wissen wollte (davon erzählte in diesem Frühjahr der Kinofilm „Die Herrlichkeit des Lebens“ ziemlich authentisch und einfühlsam zugleich). Der frühe Tod hat Kafka das Schicksal seiner Schwestern erspart, die alle drei spurlos in den Ghettos und Konzentrationslagern des Nazi-Terrors verschwanden.

Porträt des bereits an Tuberkulose erkrankten Franz Kafka aus den Jahren 1923/24.
Porträt des bereits an Tuberkulose erkrankten Franz Kafka aus den Jahren 1923/24. © Getty Images | brandstaetter images

Einer, der sich nicht an Kafkas Wunsch gehalten hat, seine Werke zu vernichten und stoßweise Manuskripte auf der Flucht vor den Nazis nach Palästina rettete, war sein bester Freund Max Brod. Schriftsteller auch er, weniger intelligent und besonders schreibend, aber zu Lebzeiten schon viel erfolgreicher als Kafka. Der sich bei der böhmischen Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt genauso wenig überarbeitete wie Brod als Angestellter der Post. Zu ihren Lebzeiten hieß es oft, weiß der Kafka-Experte Hans Dieter Zimmermann, man müsse einen deutschen Kaufmann, Ingenieur, Arzt oder Juristen nur fragen, ob er auch schreibe – schon ziehe er „aus der Tasche ein Bündel von Gedichten oder eine Novelle“, und man könne ihn nur mit Mühe davon abhalten, daraus vorzulesen.

Franz Kafka – ein Leben in Daten

1883 am 3. Juli kommt Franz Kafka in Prag zur Welt

1889-1901 Schulbesuch

1901-1906 Studium an der Deutschen Universität in Prag, zuerst Germanistik, ab dem 3. Semester dann Jura

1906 Promotion mit Ach und Krach

1907 Arbeit für die Versicherung „Assecurazioni Generali“

1908-1922 Arbeit bei der österreichischen Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt in Prag; am Ende wurde Kafka dort wegen seiner Tuberkulose pensioniert

1908 Erste Veröffentlichung von Prosatexten in der Zeitschrift „Hyperion“

1912 Kafkas erstes Buch „Betrachtung“ erscheint; erste öffentliche Lesung („Das Urteil“)

1914 Verlobung mit Felice Bauer; erstes eigenes Zimmer in der Prager Bikelgasse

1915 Carl Sternheim spricht Kafka den Fontane-Preis zu, „Die Verwandlung“ erscheint

1917 Zweite Verlobung mit Felice Bauer

1920 Verlobung mit Julie Wohryzek

1923 In Müritz an der Ostsee lernt Kafka Dora Diamant kennen

1924 Kafka reist mit Dora Diamant und seinem Freund Robert Klopstock Anfang April von Prag ins Sanatorium im oberösterreichischen Kierling bei Wien, wo er am 3. Juni stirbt.

Kafka hatte, abgesehen von seiner Krankheit zum Tode, gewiss kein schlechtes Leben. Sein Vater Herrmann hatte sich vom Wanderjuden zu einem wohlhabenden Kurzwaren-Händler in Prag hochgearbeitet und -geheiratet. An der Seite des grobschlächtigen, bärbeißigen, jähzornigen Vaters, der allem Anschein nach zwar ein medizinisch schwaches, menschlich aber gutes Herz hatte: Eine gütige, wohlwollende, liebende Mutter; der kleine Franz, das erste von sechs Kindern, hatte freilich mehr Umgang mit Ammen, Kindermädchen und Dienstboten – die Eltern waren die meiste Zeit im Geschäft. Der einzige Schatten seiner behüteten Kindheit war der frühe Tod seiner beiden jüngeren Brüder, der ihn jahrelang zwischen Einzel- und Geschwisterkind hin und her schwanken ließ, zwischen Liebesüberfluss und Liebesverlust.

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Schon als Kind, aber auch als Jugendlicher war Kafka oft im Urlaub, viel auf Reisen, Paris, Berlin, oberitalienische Seen, Österreich, Weimar, Franzensbad, Meran, Ungarn waren mehrfach angesteuerte Ziele. Erst mit 31 zog er aus dem „Hotel Mama“ aus, und das auch nur, weil die Eltern kriegsbedingt Platz für Kafkas Schwester und deren Kinder brauchten. Dass Kafka unter der Arbeit im Büro über die Maßen gelitten habe und als Kind unendlich viel unter seinem Vater, das sind Projektionen aus der ersten Kafka-Hochkonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg. Für die hatte Max Brod gesorgt, mit der Veröffentlichung der geretteten Manuskripte in Einzelausgaben und erst recht ab 1950 mit einer Werkausgabe.

Franz Kafkas Figuren sind Musterfälle von unzuverlässigen Erzählern

Mit Kafkas Figuren, diesen schuldlos schuldig Werdenden, Scheiternden in einem geradezu bösartigen System von Verhinderungen, Terror und exekutierender Macht konnten sich viele nach den Erfahrungen der Nazi-Zeit nur zu gut identifizieren. Dass dieser Autor hellsichtig so vieles von dem schon schilderte, was die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts erst nach seinem Tod in die Tat umsetzten, ahnten die meisten. Wie präzise das geschah, sahen die wenigsten. Zumal immer wieder da, wo K. oder „ich“ in den Texten steht, diese Figur umstandslos mit Kafka gleichgesetzt wurde.

Sabin Tambrea als Franz Kafka und Henriette Confurius als Dora Diamant in einer Szene des Films „Die Herrlichkeit des Lebens“, der Kafkas letzte Monate mit einiger Authentizität zeigt.
Sabin Tambrea als Franz Kafka und Henriette Confurius als Dora Diamant in einer Szene des Films „Die Herrlichkeit des Lebens“, der Kafkas letzte Monate mit einiger Authentizität zeigt. © dpa | -

Dabei liegt Kafkas literarische Stärke gerade darin, peinlich genau aus dem Blickwinkel seiner tragischen Helden zu erzählen und das Urteil darüber, ihre Einschätzung denjenigen zu überlassen, die seine Texte lesen. Aus der Sicht von Karl Roßmann, der mit 16 von seinen Eltern nach Amerika in die USA abgeschoben wird, weil er eine Bedienstete geschwängert hat, erzählt sich der Grund seiner Atlantik-Passage anders: Sie geschehe, „weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte.“ Dann blickt Roßmann bei der Einfahrt in den Hafen von New York auf die Freiheitsstatue. „Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor, und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.“ Roßmann sieht ein Schwert, da wo eine Fackel ist. Noch heute ist „Der Verschollene“, den Max Brod unter dem Titel „Amerika“ veröffentlichte, eine subtile Beschreibung der US-amerikanischen Klassengesellschaft und ihres Rassismus.

Kafkas Figuren sind mustergültige Fälle von unzuverlässigen Erzählern. Umso besser ist man beraten, sich an die Fakten zu halten. Der Held des „Schloss“-Romans ist Landvermesser. Ein solcher taucht immer dort auf, wo sich Besitzverhältnisse ändern. Dass und wie man ihn an seiner Arbeit hindert, zeigt die perfiden Beharrungskräfte eines althergebrachten Systems. Auch der „Prozess“-Roman handelt von einer zum Himmel schreienden Kluft zwischen Recht und Gerechtigkeit, handelt vom Justizsystem als Werkzeug des herrschenden Unrechts.

Kafkas Romane „Der Verschollene“, „Der Prozess“ und „Das Schloss“ blieben unveröffentlichte Fragmente

Seine drei großen Romane wurden erst nach Kafkas Tod veröffentlicht. Aber wenn man sieht, wie viele seiner besten Erzählungen schon zu Lebzeiten erschienen, wird klar, wie verkannt dieser Schriftsteller zu Lebzeiten tatsächlich war: „Die Verwandlung“, „Der Heizer“ (das Auftakt-Kapitel zum „Verschollenen“), „Das Urteil“, „Vor dem Gesetz“ (ein Kern-Kapitel aus dem „Prozess“), „Ein Landarzt“ – 46 Veröffentlichungen immerhin.

Wie Kafka Menschen und Dinge beschreibt, wie er Bilder einer unmöglichen, aber zugleich real wirkenden Gegenwart erzeugt, das nimmt literarisch den Surrealismus vorweg. Aber es ist alles sehr bewusst gemacht, man weiß, dass Kafka beim Vorlesen seiner Geschichten oft nicht aus dem Lachen herauskam. Die Hoffnung auf Besserung, wenn nicht gar Erlösung steckt bei Kafka oft im Grotesken, das einen Abstand, ein bewusstes Verhältnis zum Beschriebenen erst ermöglicht.

Zeitgenössische Aufnahme der tschechischen Journalistin Milena Jesenska. Sie wurde am 10.8.1896 in Prag geboren und starb 1944 im KZ Ravensbrück. Milena Jesenska kannte Kafka so gut wie kaum eine zweite („Briefe an Milena“).
Zeitgenössische Aufnahme der tschechischen Journalistin Milena Jesenska. Sie wurde am 10.8.1896 in Prag geboren und starb 1944 im KZ Ravensbrück. Milena Jesenska kannte Kafka so gut wie kaum eine zweite („Briefe an Milena“). © picture-alliance / dpa | CTK

Milena Jesenska, die Kafka zu Lebzeiten vielleicht am besten gesehen, erfahren, durchschaut hat, schrieb sehr einleuchtend über ihn: „Gewiss steht die Sache so, dass wir alle dem Augenschein nach fähig sind zu leben, weil wir irgendeinmal zur Lüge geflohen sind, zur Blindheit, zur Begeisterung, zum Optimismus, zu einer Überzeugung, zum Pessimismus oder zu sonst etwas. Aber er ist nie in ein schützendes Asyl geflohen, in keines. Er ist absolut unfähig zu lügen, so wie er unfähig ist, sich zu betrinken. Er ist ohne die geringste Zuflucht, ohne Obdach. Darum ist er allem ausgesetzt, wovor wir geschützt sind. Er ist ein Nackter unter Angekleideten. Das ist kein Mensch, der sich seine Askese als Mittel zu einem Ziel konstruiert, das ist ein Mensch, der durch seine schreckliche Hellsichtigkeit, Reinheit und Unfähigkeit zum Kompromiss zur Askese gezwungen ist.“