Essen. Der Nachlass-Roman des Jahrhundert-Autors, der heute weltweit erscheint, wäre besser ungedruckt geblieben. Eine Altmännerphantasie.
Schon der letzte noch zu Lebzeiten von Gabriel José García Márquez erschienene Roman des kolumbianischen Literaturnobelpreisträgers, seine „Erinnerung an meine traurigen Huren“ (2004), bot nurmehr eine jämmerliche Schrumpfform all dessen, was García Márquez zu einem Autor von selten erreichtem Rang gemacht hatte. Seine schäumende Fantasie. Sein Spiel mit einer Wirklichkeit jenseits der sichtbaren. Seine soziologische und politische Präzision, die unter all der saftigen Fabulierlust dieses lateinamerikanischen Groß-Intellektuellen nie zu leiden hatte. Seine Koketterie mit Matriarchat und Machismo in einem.
Die „Erinnerung an meine traurigen Huren“ über einen 90-Jährigen, der sich rasend in eine 14-Jährige verliebt, die er sich im Bordell zum Entjungfern bestellt hat, war eine kitschgetränkte Altmännerfantasie. Und man dachte erst ein bisschen milder darüber, als man erfuhr, dass García Márquez beim Schreiben vielleicht schon mit den ersten Symptomen jener Demenz kämpfte, die seine Angehörigen erst spät bekanntgaben.
Und nun erscheint weltweit, zum 97. Geburtstag des Autors und zehn Jahre nach seinem Tod, ein neuer Roman aus dem Nachlass (den die Universität von Austin/Texas angekauft hat): „Wir sehen uns im August“. Das Buch ist flankiert von einem doppelten Geleitzug. Im Vorwort versuchen „Gabos“ Söhne Rodrigo (64) und Gonzalo García einigermaßen erfolglos den Verdacht wegzuargumentieren, sie hätten diesen Nachlassroman aus rein kommerziellen Gründen herausgegeben, und müssen auf ein Jenseits hoffen, in dem ihr Vater ihnen verzeiht. Der hatte lange mit diesem Stoff gekämpft, um das Jahr 2000 herum ein erstes Kapitel öffentlich gelesen und später ein weiteres von der spanischen Zeitung „El País“ drucken lassen. Immer wieder überarbeitete García Márquez den Text, am Ende des heute erscheinenden Buchs schildert sein Verleger und Lektor Cristóbal Pera, wie er mit dem Autor am Roman gearbeitet hat und lobt den Stoff über den grünen Klee. Der Autor selbst aber hatte am Ende befunden: „Dieses Buch taugt nichts. Es muss vernichtet werden.“
Gabriel García Márquez befand selbst: „Dieses Buch taugt nichts. Es muss vernichtet werden“
Die Geschichte schildert eine Frau, die nach 27 Jahren glücklicher Ehe mit einem Dirigenten und musikalisch hochbegabten Kindern auf einer Karibikinsel, auf der sie alljährlich zwei Tage lang das Grab ihrer Mutter besucht, eine Art Erweckungserlebnis hat: Im Hotel an der Lagune lässt sie sich von einem Wildfremden im weißen Anzug zum Brandy und dann auf dem Hotelzimmer auch zu mehr einladen. Daraus wird eine Gewohnheit, was in teils drastischen, immer aber sehr expliziten Sex-Szenen mit etlichen anderen Männern geschildert wird. Unter ihnen war, wie sich später in einer Art Reizüberflutung herausstellt, sogar ein Doppelmörder.
Dass diese Frau so heißt wie Johann Sebastian Bachs zweite Ehefrau, unterstreicht mehr als plakativ die sehr gewollte Rolle der Musik in diesem „Roman“, der auch von der Länge her eher eine Novelle ist. Es geht ja auch um Debussys „Clair de Lune“ in einer Bolero-Bearbeitung, um Brahms, Mozart und Schubert. Aber das bleibt Dekor und Name-Dropping, die Musikalität des Textes ist eher unterentwickelt. Er ist schlecht ausbalanciert, und seine Unwahrscheinlichkeiten lassen sich nicht gerade als „Magischer Realismus“ verbuchen.
Der erste Band der Erinnerungen von García Márquez bleibt sein letztes großes Buch: „Leben, um davon zu erzählen“
Umso mehr muss uns nun der 2002 erschienene Beginn seiner Autobiografie „Leben, um davon zu erzählen“ als das letzte große Buch von Gabriel García Márquez gelten. Er habe das unwiderstehliche Verlangen, „zu schreiben, um nicht zu sterben“, notierte er dort. Das ist ihm mit der ungelenken, groben Fingerübung „Wir sehen uns im August“ nicht wirklich gelungen. Vielleicht hätte er stattdessen lieber seine Memoiren fortsetzen sollen – der Roman seines Lebens, das ihn in Lateinamerika zu einem in Restaurants mit spontanem Applaus begrüßten Popstar machte, war der weitaus bessere.