Essen. Regisseur Yorgos Lanthimos erzählt eine moderne Frankenstein-Geschichte mit prallen Schauwerten und einer grandiosen Hauptdarstellerin.

Dr. Goodwin Baxter hat ein Wesen erschaffen. Bella ist eine junge, schöne Frau von etwa 25 Jahren, die sich derzeit noch auf dem Niveau eines Kleinstkindes verständlich machen und bewegen kann. Was seinen Grund hat, denn Bella war bis vor kurzem noch tot, gestorben an einem selbst herbeigeführten Sturz von einer Brücke. Dr. Baxter zieht einen seiner Studenten hinzu. Max soll dem Wesen Sprache und Denken beibringen. Bald stellen sich Erfolge ein.

Alasdair Grays Roman „Arme Dinger: Episoden aus den frühen Jahren des schottischen Gesundheitsbeamten Dr. med Archibald McBandless“ erfährt 31 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung eine Verfilmung, die sich mit Gusto auf die schrillen Aspekte der Vorlage stürzt. Was grundsätzlich eine kluge Entscheidung zugunsten des visuellen Mediums Film ist. Regie führte der Grieche

Yorgos Lanthimos,

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    der mit den bizarren Familiendramen „Dogtooth“ und „Lobster“ zum Liebling kultfreudiger Kritikerzirkel aufstieg und mit dem Königinnenporträt „The Favourite – Intrigen und Irrsinn“ auch im Oscar-Zirkus punkten konnte.

    Yorgos Lanthimos hat ein Faible für feminine Sexualgelüste

    Lanthimos hat ein Faible für unkonventionelle Raumkompositionen, feminine Sexualgelüste und den Einsatz des Fischaugenobjektivs. Allen drei Vergnügen geht er in seinem jüngsten Wurf ausführich nach und beschert Emma Stone, die den Film als Produzentin entscheidend anschob, in der Rolle der Bella ein wahrlich unkonventionelles Vehikel gegen jene zementierte Angst vorm Risiko, die Hollywood seit Jahren lahm legt.

    Bella (Emma Stone) und der Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo).
    Bella (Emma Stone) und der Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo). © Searchlight Pictures | Searchlight Pictures

    Denn Bella bleibt nicht lange ein Kind in einem erwachsenen Körper, das mit Stauneaugen und radebrechender Zunge unsicher durchs Zimmer stakst. Schnell entdeckt sie ihren Willen, den sie rabiat durchzusetzen beginnt. Vor allem aber ist es ihre Sexualität, an der sie zusehends Freude empfindet. Den schüchternen Max (Ramy Youssef) verschreckt das; Dr. Baxters Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) hingegen sieht sich schon als neuen Professor Higgins und nimmt Bella gönnerhaft mit auf eine Kreuzfahrt.

    Sie stranden in Lissabon und kommen mittellos nach Paris. Hier beschließt Bella, sich endgültig der Fesseln maskuliner Dominanz zu entledigen und macht eine lukrative Karriere in einem Freudenhaus. Als reiche Lesbierin kehrt sie zu Dr. Baxter zurück.

    „Poor Things“ ist bizarr und aberwitzig wendungsreich

    Bizarr und aberwitzig wendungsreich wie die Handlung ist die künstlerische Ausgestaltung dieses Films. Yorgos Lanthimos eröffnet mit viktorianischen Laborszenen in Schwarzweiß und Willem Dafoe als modernem Frankenstein, hinter dessen grotesk entstellten Gesichtszügen der liebende Vater schlummert, der ihm selbst verwehrt blieb. Mit Bellas Aufbruch in die Welt wird der Film farbig, surreal und – bei einer Spielzeit von fast zweieinhalb Stunden – lang.

    Das Auge darf sich sättigen an superben Dekors und Kostümen, in denen sich hundert Jahre Film und Malerei spiegeln. Es gibt abstruse Mischwesen wie den Schweinehund (buchstäblich zu nehmen) oder das Huhn mit dem Kopf einer Bulldogge. Alle Wesen treibt es zu friedlicher Koexistenz, nur die Konformisten und auf Norm Bedachten stören empfindlich. Substanzielle Charaktertiefen ergeben sich daraus nicht. Ein Film fürs Auge, zum Denken oder Fühlen viel zu schick.