Essen. Die neue Gast-Autorin im Ruhrgebiet spricht im großen Interview über Freiheit, weiche Bleistifte und die Lust am Denken.

Die Philosophin Eva von Redecker (41), die das „Spiegel“-Sachbuch des Jahres geschrieben hat („Bleibefreiheit“), ist jetzt für neun Monate „Metropolschreiberin“ Ruhr mit Wohnsitz in Mülheim. Sie hat in Cambridge, Verona und New York geforscht und gelehrt, seit Herbst 2022 ist sie für das Kölner Schauspiel Gastgeberin der philosophischen Gesprächsreihe „Eva and the Apple“ („der Titel ist nicht von mir!“). Im Ruhrgebiet ist sie zuvor noch nie gewesen – aber am Mittwochabend hielt sie ihre Antrittslesung fürs Revier im einstigen Wohnhaus des WAZ-Mitbegründers Erich Brost und seiner Frau Anneliese, heute Sitz der Brost-Stiftung, die das „Metropolschreiberin“-Stipendium vergibt. Wir sprachen mit Eva von Redecker vorab über Freiheit, weiche Bleistifte und ihre Kindheit auf einem Bio-Hof.

Frau von Redecker, Sie sind wirklich auf einem Bio-Hof aufgewachsen?

Ja, in Schleswig-Holstein, bei Kosel, Hof in Einzellage an der Schlei. Als ich klein war, war es noch kein Bio-Hof, meine Eltern haben in den späten 80er Jahren allmählich umgestellt, mit viel Experiment und nicht endender Arbeit. Meine Eltern sind durch Beobachtung dazu gekommen, zu denken: Irgendwie muss man das anders machen, irgendwie müssen doch die Lerchen in den Erdbeeren nisten können. Ich habe mal als Kind Kamille gepflückt, mit kaltem Wasser aufgegossen und kredenzt, da haben meine Eltern gesagt: „Nein, um Himmels Willen, trink das nicht! Das ist frisch gespritzt!“ Da haben sie gedacht: Das kann doch nicht richtig sein!

Sie sind also mit dem Gedanken der Umweltverträglichkeit groß geworden?

Ja, in beide Richtungen. Einerseits: Dass man versucht, zu schonen und zu erhalten. Das klingt für viele vielleicht ganz abwegig, aber gerade weil mein Vater auch Jäger war, konnte er unglaublich gut erklären, welche Lebensbedingungen auch seltene, wilde Tierarten brauchten. Andererseits hat man in der Landwirtschaft einen unromantischen Blick auf die Natur – die Umwelt muss auch für uns verträglich und nährend sein. Und man weiß, wie viele Eingriffe und Arbeit das braucht, bis irgendetwas wächst.

Die Natur, wie der Städter sie sich als zu schützend vorstellt, ist ja schon ganz stark durch menschliche Arbeit strukturiert. Manche Sachen können wir auch besser machen! Zumal besser für uns. Menschen können nicht von selber in der Natur leben, dafür braucht es eine gewisse Arbeit.

„Wirklich Neuland“ ist für sie das Ruhrgebiet: Eva von Redecker bei ihrer Antrittslesung.
„Wirklich Neuland“ ist für sie das Ruhrgebiet: Eva von Redecker bei ihrer Antrittslesung. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Dafür gibt es das schöne Wort „kultivieren“.

Nicht wahr? Meine erste Assoziationen mit „Kultur“ sind Ackerfrüchte, das sind ja die verschiedenen „Kulturen“ in der Landwirtschaft. Es ist eine abstrakte Fantasie, dass es eine Natur hier und eine Kultur dort gäbe. Das kommt einem als Landwirtin schon immer ganz abstrus vor.

Aber es bleibt dabei: „bio“ bedeutet viel Arbeit.

Ja, und wo im großen Stil angebaut wird, kann man sich nicht so viel Zeit nehmen wie im eigenen Garten. Aber auch der ist ein Puzzlestück für nachhaltige Zukunft. Tatsächlich können Bio-Gärten sowohl eine höhere Ertragsmenge pro Quadratmeter bringen als konventionelle Landwirtschaft als auch eine viel höhere Bio-Diversität entwickeln als „wilde“ Natur aufweist, durch menschliche Eingriffe! Für jede progressive Bodenreform der Zukunft wäre es ganz wichtig, was man mit den Gärten macht.

Bio-Bauern sind jetzt gerade von der Dieselpreis-Erhöhung besonders betroffen, weil sie häufiger raus aufs Feld müssen und Wildkräuter mechanisch beseitigen statt mit der Spritze.

Ja, so regressiv die Forderung nach billigem Diesel klingt, auf eine Art ergibt sie Sinn. Bauern können nicht auf den öffentlichen Nahverkehr umsteigen, um ihre Äcker zu bearbeiten. Um wirklich vom Diesel wegzukommen, müsste man das ganze System der europäischen Landwirtschaft von Grund auf umbauen. Dafür müssten viele Leute wieder Lust haben, auf dem Land zu arbeiten, und es müsste anders durchfinanziert sein.

Wenn sie „Gestrüpp“ sieht, bekommt sie Heimweh: Die neue Metropolenschreiberin Ruhr Eva von Redecker im Brost-Haus.
Wenn sie „Gestrüpp“ sieht, bekommt sie Heimweh: Die neue Metropolenschreiberin Ruhr Eva von Redecker im Brost-Haus. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Und wie wird man Philosophin?

Indem man so viel Freude am Denken hat.

Wann haben Sie die entdeckt?

Fortlaufend, immer. Ich kann mich gar nicht erinnern, dass ich die mal nicht hatte. Meine Mutter führt mit ihren Kundinnen und Kunden im Hofladen immer sehr angeregte Gespräche und mein Vater hat stets darauf gedrungen, dass es keine Trennung von Hand- und Kopf-Arbeit gibt. Wer die Hebelgesetze kennt, hat es mit der Mistkarre leichter. Ich glaube, dass dieses abgeschiedene und arbeitsame Großwerden die Fantasie sehr beflügelt hat. Weil so wenig vorgegeben war. Weil man so viel erfinden konnte. Und weil man in der Landwirtschaft das Glück hat, dass die Eltern Sachen machen, deren Sinn sich einem sehr schnell erschließt. Wenn ich heute am Schreibtisch sitze, ist es viel schwieriger, Kindern zu erklären, wie sinnvoll das ist. Wenn es das denn überhaupt ist (lacht). Ich war als Kind fest davon überzeugt, dass ich nicht betreut werde, sondern mithelfe. Das war ein guter Kontext, um zu lernen, nach Sinnhaftigkeit zu fragen und darauf zu bestehen.

Und dann Philosophie studiert?

Nein, ich hab erst gar nicht verstanden, dass man das kann, und mit Medizin angefangen. Als ich entdeckt habe, dass die anderen das nicht nur sinnvoll finden, sondern auch noch Spaß daran haben, habe ich gedacht: Dann mache ich auch, was mir Spaß macht! Ich kann ja aufhören, wenn es nicht mehr läuft, ich weiß ja, wie man Kartoffeln anbaut und werde nicht verhungern. Bis jetzt komme ich damit durch und begegne immer mehr Menschen, die sich ebenfalls für grundlegende Überlegungen interessieren.

Gab es den Moment, in dem Sie dachten: So, jetzt bin ich Philosophin?

Man selber merkt es auf eine Art, einfach weil man sich ungewöhnlich viel Zeit für Grübeleien nimmt, aber braucht es nicht zu benennen. Irgendwann aber habe ich mal gedacht: Ah, interessant, jetzt sehen dich andere Leute als Philosophin. Und interessieren sich dafür, wie sich mir etwas darstellt, mit welchen Begriffen ich etwas beschreibe. Und wollen nicht nur eine Auskunft darüber, was in der Philosophie mal dazu gesagt worden ist. In Gesprächen mit Freundinnen und Freunden ist das natürlich immer schon wechselseitig der Fall. Aber als öffentliches Bild hat sich das wohl durch meine letzten beiden Bücher gefestigt.

In Ihrem Buch „Revolution für das Leben“ haben Sie den Begriff vom „Phantombesitz“ eingeführt, was meinen Sie damit?

Einen Eigentums- oder Verfügungs-Anspruch, der eigentlich schon gegenstandslos geworden ist. Analog zum Phantomschmerz, bei dem man ja auch spürt, da sei noch etwas, obwohl es nicht stimmt. Phantombesitz ist ein Affekt, der sehr verbreitet ist in einer Gegenwart, in der es sehr viele Unsicherheiten gibt.

Haben Sie ein Beispiel?

Der Begriff hilft zum Beispiel, über geschlechtsspezifische Gewalt nachzudenken. Rechtlich haben Männer keine individuelle Kontrolle mehr über Frauen. Es hat sich nach und nach durchgesetzt, dass auch Ehefrauen ihre eigene Arbeit und Konten haben durften und die Vergewaltigung strafbar wurde. Aber zum Teil werden Männer heute immer noch so sozialisiert, dass sie nur ein ganzer Mensch sind, wenn sie eine Frau haben und die macht, was sie wollen. Und auch nur ihre Frau ist und nicht die von jemand anderem und nicht plötzlich wegläuft. Das ist kein gesetzlich gesicherter Eigentumsanspruch mehr wie noch im 19. Jahrhundert, aber ein mentaler Rest davon, der in Krisen sichtbar wird, etwa wenn eine Frau sich trennen will – in solchen Momenten kommt es dann zu Gewalt, die die „Ordnung“ der Phantombesitzverhältnisse wieder herstellen soll.

Phantombesitz strukturiert ebenso viele weitere, oft noch selbstverständlichere Aspekte unserer Lebensform, von denen wir wissen, dass sie Zerstörungen anrichten, jetzt oder in der Zukunft, und eigentlich geändert gehören. Vorneweg natürlich die Verfeuerung fossiler Brennstoffe, da weiß man, es müsste eigentlich sofort aufhören.

Aber es gibt die Macht der Gewohnheit.

Ja, ihre Zähigkeit. Es gibt auch die echte Alternativlosigkeit. Also dass die kollektiven Bedingungen dafür noch nicht geschaffen sind, es anders zu machen. Und dann gibt es den Impuls: Dann kralle ich es mir jetzt noch einmal! Eigentlich weiß man schon, es geht nicht mehr lange gut, das ist die falsche Technologie oder das wird uns bald verboten. Aber gerade in dem Moment sehen wir, dass die Verkaufszahlen für spritfressende SUVs nach oben gehen und immer größere Autos gefahren werden.

Das ist der Phantombesitz-Anspruch. Und wenn dieser Besitz entzogen wird, dann gibt es einen großen Furor des Freiheits-Verlusts. Dabei wäre es der viel größere Freiheits-Verlust, unsere Welt unbewohnbar zu machen.

Freiheit als Freiheit des Gebrauchs, des Verbrauchs.

Ich würde sogar sagen: Freiheit zur Zerstörung.

Einen Gegenbegriff dazu haben Sie im nächsten, dem jüngsten Buch entwickelt, das ihn gleich im Titel trägt: „Bleibefreiheit“. Ist das ein Gegenstück zur Reisefreiheit?

Ja, auch, aber vor allem ein Gegensatz zur individuellen Besitzstands-Freiheit mit ihrem Recht auf blinde Willkür. Aber es stimmt, zunächst kritisiere ich die klassisch liberale Vorstellung der Bewegungsfreiheit, inklusive der Bewegungsfreiheit des Willens. Diese Vorstellung ist rein räumlich angelegt und völlig zeitblind. Bewegungsfreiheit im Hier und Jetzt. Ohne zu fragen, ob man wird frei bleiben können.

Und was setzen Sie dagegen?

Dass es möglich ist, Freiheit zeitlich zu verstehen. Dass die Freiheit in der Zeit besteht. Dass Freiheit heißt: Nicht Raum, sondern Zeit zu haben. Und dann ist es entscheidend, welche Qualitäten diese Zeit hat, erfüllte Zeit, Zeit zum Erholen, eine ungezwungene Zeit. Und wenn diese Facetten alle zusammenkommen, dann ist man, glaube ich, frei. Auf eine sehr individuelle Art, aber so, dass die Individuen nicht gegeneinander stehen und einander den Manövrierraum rauben.

Stimmt es, dass Sie gern mit der Hand schreiben?

Ja, ich hab‘ bestimmt noch Tintenflecken an den Fingern!

Ich wollte fragen: Bleistift oder Füllfederhalter? Kugelschreiber oder Fineliner?

Bleistifte und Füller. Ich hab gestern in Mülheim beim Netto schon ganz viele Bleistifte gekauft und überall in meiner neuen Residenz verteilt. Ich schreibe auch wahnsinnig viel in Bücher rein, die ich lese. Und habe viele Notizbücher, die ich mit dem Füller vollschreibe.

Welche Härte beim Bleistift?

Am liebsten B, also etwas weichere.

Ist das nicht, im Vergleich zum Computer, eine mühevolle, umständliche Art zu schreiben?

Ich glaube, dass das Schreiben mit der Hand sehr gut hilft, einen narrativen Fluss zu erhalten. Man hat dann nicht diese zerhackstückten Texte, bei denen ganze Blöcke hin und her geschoben wurden. Ich arbeite natürlich auch mit dem Computer, aber beim Abtippen stellt sich auch heraus, ob sich die Mühe überhaupt lohnt oder ob man da etwas Überflüssiges geschrieben hat.

Und Sie reisen ungern?

Ja, aber auch, weil ich mich überall, wo ich ankomme, am liebsten gleich schon wieder auf Dauer einrichten würde. Und es hat etwas mit der landwirtschaftlichen Prägung zu tun. Da hat man eigentlich nie Urlaub, und wir sind dann mal in den Herbstferien zehn Tage weggefahren, das fand ich vollkommen sinnlos, wir saßen mit wenig Platz in einer kleinen Wohnung und es war so beliebig, wo man war, während man auf dem Hof wusste, warum man da war.

Es ist häufig nur eine Fantasie, dass man dadurch, dass man den Ort wechselt, seinen Horizont erweitert oder sich bildet. Erst recht in Zeiten, wo Innenstädte und Flughäfen einander immer ähnlicher werden. Es ist dann auch eine Art Phantombesitz an Welt. Wenn man sich irgendwo verwurzelt und dort verschiedenste Beziehungen zusammenbringt, ist das oft viel welterschließender. Die Idee, dass es das Höchste ist, dass man wegkann, ist eigentlich ein Freiheitsbegriff von Gefängnisinsassen.

Was würden Sie heute zur These von Marx sagen, die Philosophen hätten die Welt bisher nur verschieden interpretiert, es komme aber darauf an, sie zu verändern?

Ich würde sagen, dass dieses „Aber“ nachträglich von Engels eingeschoben wurde. Und dass es eigentlich nicht ein kompletter Gegensatz ist. Eine andere Beschreibung ändert nicht die Welt; aber ihre Veränderung ist davon abhängig, wie man die Welt beschreibt, dass man sie genau beschreibt, wie sie jetzt ist. Und davon, dass man sie anders denken kann.