Essen. Sein Roman „Baumgartner“ wirkt, als habe ihm der Krebs die Konzentration geraubt. Er erzeugt erst Spannung und Vorfreude - dann geht’s schief.
Seymour T. Baumgartner ist allein. Seit zehn Jahren ist der 71-jährige Phänomenologie-Professor aus Princeton Witwer. Nicht dass es nicht die eine oder andere Affäre gegeben hätte, aber geliebt hat er nur Anna. Als Student hatte er sie kennengelernt und fast 32 Jahre mit der Übersetzerin und Autorin zusammengelebt, die meiste Zeit in ihrem gemeinsamen Haus. Sie tat immer, was sie wollte, und er ließ sie, auch als sie vor neun Sommern in die Monsterwelle vor Cape Cod rannte und nicht mehr zurückkam.
Immer noch muss er seither herausfinden, wie er ohne sie leben kann. Immer noch schreibt er ihr Liebesbriefe an ihre gemeinsame Adresse, die er allein lesen muss, wenn sie eintreffen. Immer noch holt er ihre Unterwäsche aus dem Schrank und ist dann ganz bei ihr. Immer noch liest er ihre Texte, die in den Schubladen ruhen. Aus ihren Gedichten hat er einen Band zusammengestellt, weil sie es verdient haben, Leser zu finden. „Er will noch leben, aber sein Innerstes ist tot.“
Paul Auster gönnt seinem „Baumgartner“ keine Ruhe
Doch regt sich wieder so eine leise Lebenslust. Er hat neue Buchideen, eine wiedererstandene Klarheit im Kopf und Zukunftsmut. Es ist der 16. August 2018, und er hat Pläne über den Tag hinaus. Der Tag aber beginnt mit permanenten Störungen. Zunächst hat er den Topf auf dem Herd vergessen und verbrennt sich daran die Finger, dann klingeln im unpassenden Moment die Buchhändlerin und das Telefon. Die Putzfrau sagt ab, weil ihr Mann einen Unfall hatte. Dann steht der Stromableser vor der Tür, und als er ihm den Zähler zeigen will, stürzt er die Kellertreppe hinunter und verletzt sich. So ist das mit den Zufällen des Lebens: „Die lassen einen hier nicht mal zum Denken kommen.“
In gekonnter Zeitdehnung entwickelt Paul Auster an minutiös beschriebenen Malheuren entlang den Beginn seines neuen Romans. Den würde man so gern mögen, weil in der Folge vieles aufscheinen wird, was die Romankunst des 75-Jährigen, der am Ende des vorigen Jahres eine Krebsdiagnose bekam, so besonders gemacht hat. Doch zerfasert der Text in der Folge über Gebühr, sodass am Ende ein zwiespältiges Gefühl bleibt.
„Baumgartner“ von Paul Auster mit autobiografischen Elementen
Das ist geschrieben, als würde es von einem diffusen Unruhegeist getrieben. Autobiografisches scheint auf, separate Texte Annas und Baumgartners sind eingeklinkt, in Erinnerungen verwirbeln die Zeitebenen. Immerhin beendet er sein Buch „Rätsel des Steuers“, um es ein paar Wochen liegenzulassen bis zum Korrekturlesen. Es handelt von selbstfahrenden Autos im Land der Freien und davon, wie dann doch alles anders kommt. In der Zwischenzeit driften die Erinnerungen weit zurück in die Kindheit. Sie tentakeln zum anarchopazifistischen Vater in Polen, der mit sechs nach Amerika kam, sich irgendwann ganz auf Bücher konzentrierte und dann doch in der vierten Generation das Herrenmodegeschäft übernahm, weil er keine andere Wahl hatte. Auch die Mutter nicht, die er hier kennenlernte und die bald aus seinem Leben verschwand unter lauter Minderwertigkeitskomplexen. Die eingestreuten Texte erzählen davon, auch von einer Reise ins ukrainische Iwano-Frankiwsk zu den Wurzeln einer Familie, die es nicht mehr gibt, seit alle geflohen waren und die Wölfe die Stadt übernommen hatten als Ausgeburt des Krieges.
Es ist ein typischer Auster-Roman, in dem der Protagonist in seinem Raum an der Schreibmaschine sitzt, seine Identität zu fassen sucht und Texte häuft, die sich wie in einem Spiegelkabinett ergänzen zu einem Roman als Entwirrspiel. Da geht es um den verlorenen Vater, um Tode und darum, wie jeder die Hilfe von anderen braucht innerhalb seines fragilen Lebens. Es geht um diverse Stoffe, die sich angesammelt haben zu Texten aus einem Leben, das sich neu organisieren will.
Paul Auster beendet „Baumgartner“ am Siedepunkt der Spannung
Dann trifft ein Brief ein, der alles verändert. Die Studentin Beatrix Coen will vor Ort Annas Werk analysieren und trifft genau Baumgartners Nerv. Er möchte sie empfangen wie eine Tochter, die sie nie hatten, oder wie eine Reinkarnation seiner Frau. Er will sein Leben ändern und bereitet alles darauf vor, bis der Zufall wieder zuschlägt am Beginn eines letzten Lebenskapitels. Spannung und Vorfreude erreichen einen Siedepunkt, dann bricht der Text ab.
Und nun? Paul Auster lässt den Leser allein, bevor das letzte Kapitel beginnen kann.