Dortmund. Xin Peng Wang wagt im Dortmunder Opernhaus einen neuen „Schwanensee“ – das Publikum steht auf den Stühlen, die Compagnie geht an ihre Grenzen.

Ein Wagnis. Xin Peng Wang tritt gegen eine der gelungensten zeitgenössischen Adaptionen des „Balletts der Ballette“ an. Die Rede ist nicht von John Neumeier oder Mats Ek, sondern von Wangs eigener „Schwanensee“-Überarbeitung aus dem Jahr 2012 (das Jahr 2005 sah die erste Produktion). Kann das gutgehen?

Oh, ja! Wang schürft tief in der menschlichen Psyche und entfaltet ein packendes Seelenpanorama von atemberaubender Schönheit. Die Geschichte ist bekannt: Königinmutter bedrängt den jungen Thronfolger Siegfried mit dynastischen Verpflichtungen, dieser flieht mit seinem Freund Benno an den See, trifft dort auf verwunschene. Schwäne, verliebt sich in die Schwanenprinzessin – und scheitert schließlich an der Mission, sie liebend aus der Schwanengestalt zu erlösen, weil er der schönen Odile erliegt, einem Trugbild des bösen Zauberers Rotbart.

Xin Peng Wang inspiriert eine Leistungsschau seiner Compagnie

Ein Stoff so überreich an mythologischen Motiven und Bezügen, dass er eine Vielzahl von Perspektiven und Interpretationen ermöglicht und sich doch jeder konkreten Deutung entzieht. Wang wählt diesmal einen Zugang über die Psychopathologie: Siegfried ein wirtschaftlich privilegierter, aber mental gefährdeter junger Maler, dessen Wahn sich in der obsessiven Beschäftigung mit Feder- und Seerosenmotiven ankündigt. Zunächst sehen wir einen mondänen Empfang im Atelier: Die Herren im Smoking und die Damen in hocheleganten cremefarbenen Kreationen (Kostüme: Bernd Skodzig) – diese Party hätte auch im Hause des großen Gatsby steigen können.

Wang nutzt sie für eine Leistungsschau seiner Compagnie: höher, weiter, schöner. Fest verwurzelt im Vokabular des klassischen Balletts, erweitert er dessen Ausdrucksmittel bis an Grenzen des Möglichen: Schritt- und Sprungkombinationen, die Gesetze der Physik in Frage stellen (jede:r einzelne der großartigen Tänzer:innen hätte hier eine namentliche Erwähnung verdient!). Und doch bleibt die Choreographie nie L’art pour l’art, immer dient sie der Erzählung. Hier zeichnet sie das Bild einer selbstverliebten und entfesselten Jeunesse dorée.

Die legendäre Bearbeitung von Lew Iwanow und Marius Petipa wird fortgeschrieben

Perfekt synchron: Das Dortmunder Ballett-Ensemble im zweiten Akt des „Schwanensees“.
Perfekt synchron: Das Dortmunder Ballett-Ensemble im zweiten Akt des „Schwanensees“. © theaterdo | Leszek Januszewski

Die See-Akte bleiben nahe an der legendären Bearbeitung von Lew Iwanow, der dieses Ballett gemeinsam mit Marius Petipa zu jenem funkelnden Juwel gemacht hat, das wir heute kennen. Wang schreibt diese fort, verleiht ihr wirkungsvoll und doch dezent seine eigene Handschrift, poliert sie und bestreut sie mit Sternenstaub: An die 30 Schwäne mit perlmuttglänzenden Tütüs befiedern die Bühne in vollkommener Synchronizität: Elysium! Und ja, an dieser Stelle ist mehr einfach mehr.

Der dritte Akt führt zurück an den Hof bzw. hier direkt in die Tate Modern: Waschbeton trifft Malerei (Bühnenbild und Videodesign: Frank Fellmann). Kommen in traditionellen Aufführungen Petipas Charaktertänze oft überladen und altbacken daher, sehen wir hier federleicht-puristische Neoklassik mit einer Prise Wang. Siegfried erlebt seinen künstlerischen Durch- und zugleich seinen psychischen Zusammenbruch. Er entzieht sich schließlich den Ansprüchen von Mutter und Mäzen durch Flucht in die Phantasie: Wahnwelt oder Transzendenz? Auch bei Wang darf der Schwanensee sein letztes Geheimnis bewahren.

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Iana Salenko, Márcio Barros Mota und Dinu Tamazlacaru in den Hauptrollen

Odette/Odile tanzt niemand geringeres als Iana Salenko, Primaballerina des Berliner Staatsballetts. Erstere routiniert, erst bei der Verkörperung der dämonischen Odile entfaltet sie ihre volle Ausdruckskraft. Sehr präsent auch Simon Jones als Rotbart und sinistrer Mäzen, obschon beide (oder alle drei) in Wangs Deutung nicht real sind, sondern nur als seelische Schatten existieren. Márcio Barros Mota zeigt sich als Benno sprungstark wie der junge Polunin, Dinu Tamazlacaru wiederum zeichnet sensibel das Bild eines Künstlers zwischen Wahn und Wirklichkeit.

Das Publikum stand auf den Stühlen, Extra-Applaus für das Dirigat von Gabriel Feltz, der mit den Dortmunder Philharmonikern Tschaikowskis pompöse Hochromantik sensibel und durchlässig gestaltet.