Rotterdam. Neben dem englischen Streetart-Meister Banksy ist er aktuell der bekannteste Künstler der Welt: Ai Weiwei. In Rotterdam ist sein Werk zu sehen.

Die Schau ist fertig, es gibt nur noch letzte Details zu klären. 24 Stunden, bevor in Rotterdam sein Werk der Öffentlichkeit präsentiert wird, ist Ai Weiwei entspannt. Dann fallen Schüsse.

Die Kunsthal, wo der Kunst-Superstar am Freitagvormittag über sein Leben und die aktuelle Ausstellung „In Search of Humanity“ spricht, ist nur etwa einen Kilometer von der Uniklinik der Erasmus-Universität entfernt. Dort, und in einer nahe gelegenen Wohnung, hatte am Vortag ein offenbar psychisch gestörter 32-Jähriger drei Menschen erschossen. „Die Menschen sagten mir, so etwas geschieht in Rotterdam höchstens alle zehn Jahre“, sagte Ai WeiWei, um zu bedenken zu geben: „Wir sind geschockt, dass so etwas hier passiert. Das ist schlimm, aber in der Ukraine zum Beispiel sterben seit mehr als eineinhalb Jahren jeden Tag Menschen – und ein menschliches Leben ist überall gleich viel wert.“

Auf Lego: Ai Weiwei mit Selfie bei seiner Festnahme in Peking.
Auf Lego: Ai Weiwei mit Selfie bei seiner Festnahme in Peking. © Heiko Buschmann

In größeren Zusammenhängen denken

Die Bewertung der aufwühlenden Ereignisse in der niederländischen Metropole ist typisch für den 66-Jährigen. Er hat in seinem Leben viel erlebt – inklusive verschärfte Einzelhaft in einer Zelle in Peking, die Teil seiner Ausstellung in der Kunsthal ist. Schon früh in seinem Leben hat er in größeren Zusammenhängen gedacht, als dass der Amoklauf eines Einzelnen bei ihm um die Ecke seine Weltsicht noch beeinflussen könnte.

Ai Weiwei macht also einen gelassenen Eindruck, als er im Gespräch mit Kunsthal-Direktorin Marianne Splint darüber reflektiert, was ihn auch im nunmehr fortgeschrittenem Alter antreibt, auf all die Missstände in der Welt hinzuweisen. Er lässt lieber sein Werk erzählen, in Rotterdam ist es eine Retrospektive von 1983 bis heute. So spannt „In Search of Humanity“ den Bogen von Aktionen auf dem Tian’anmen-Platz in seiner Heimat China, über seinen persönlichen Einsatz für Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos bis hin zu seiner viel beachteten „Fuck“ -Finger-Tour vor etwa dem Weißen Haus in Washington und anderen nicht ganz unwichtigen Orten auf dieser Erde.

„Meine Arbeit bezieht sich immer darauf, was ich selbst erlebt habe“, sagt Ai Weiwei und betont: „Ich mache keine Kunst, um schöne Dinge zu erschaffen. Was soll das sein?“ Was andere Künstler so machen, interessiert ihn laut eigener Aussage nicht: „Ich schaue mir keine anderen Ausstellungen an und gehe nie zu Vernissagen oder ähnlichen Veranstaltungen.“

Echter Provokateur oder nur ein Selbstdarsteller?

Einige nennen das provokant, andere finden, Ai Weiwei sei nur ein Selbstdarsteller. Wie dem auch sei, was der Sohn eines in China seinerzeit recht bekannten Poeten, der in den 30er-Jahren in Paris studierte, erregt auf jeden Fall meist sehr viel Aufmerksamkeit. „Mein Vater war ein Rebell“, erzählt Ai Weiwei bei seinem Besuch in Rotterdam.

Alltag in der Zelle in Miniaturformat.
Alltag in der Zelle in Miniaturformat. © Heiko Buschmann

Er selbst lernte zunächst an der Pekinger Filmakademie, dann machte er sich in den frühen 80er-Jahren in die USA auf und beschäftigte sich vor allem in New York mit Performance und Konzeptkunst. Nach der Rückkehr nach China erfährt er wegen seines gesellschaftlichen und politischen Engagements zum ersten Mal Repressalien, eine spätere Inhaftierung ist nun ein Teil der Ausstellung „In Search of Humanity“, die zuvor in der Albertina in Wien zu sehen war.

Ai Weiwei lobt die Architektur der 1992 vom berühmten Gebäudegestalter Rem Koolhaas entworfenen Kunsthal, auch wenn sie manchmal „etwas brutal“ wirke. In dem weitläufigen Gebäude in Rotterdam Museumspark kommt seine Schau auf jeden Fall ordentlich zur Geltung. Los geht’s mit “Forever Bycicles“, das passt gut nach Holland, dann das berühmte Triptychon, in dem er eine wertvolle chinesische Vase auf den Boden fallen lässt, gegenüber eine mit Gewehrkugeln durchlöcherte Wand: Ai Weiweis Botschaften werden immer eindringlicher, zum verheerenden Erdbeben 2008 in Sichuan listet er alle Namen der über 5.000 dort verstorbenen Kinder auf, dabei schwebt über den Köpfen der Museumsbesucher eine sieben Meter lange und äußerst bedrohlich wirkende Schlange.

Vorliebe für Lego

Ai Weiwei hat eine Vorliebe für Lego. Einen nicht unerheblichen Anteil der Ausstellung nehmen Werke mit Plastiksteinchen aus Dänemark ein, so unter anderem eine Serie mit Drachen und anderen Geschöpfen aus der chinesischen Mythologie. „Zwei davon hat ein bekannter Modeschöpfer aus Paris gekauft“, verrät Kurator Joris Westerink beim Gang durch die Kunsthal.

Legoarbeit in Erinnerung an den vom autokratischen Regime in Riad getöteten Journalisten Jamal Kashoggi: “I can’t breathe“ auf Arabisch.
Legoarbeit in Erinnerung an den vom autokratischen Regime in Riad getöteten Journalisten Jamal Kashoggi: “I can’t breathe“ auf Arabisch. © Heiko Buschmann

Auch seinen Protest gegenüber der Inhaftierung und Ermordung des saudi-arabischen Journalisten Jamal Kashoggi durch das autokratische Regime in Riad äußert Ai Weiwei in Form einer Legoinstallation. Kashoggis letzte Worte „I can’t breathe“, später auch durch die bei Festnahmen von Polizisten getöteten Afroamerikaner Eric Garner 2014 in New York und George Floyd 2020 in Minneapolis das Symbol für die „Black Lives Matter“ -Bewegung, platzierte Ai Weiwei in Anspielung auf die saudi-arabische Landesflagge in weißen arabischen Schriftzeichen auf grünen Legoplatte.

Kleine und große Schockmomente

Großformatig schockt Ai Weiwei mit sechs rostfarbenen Kisten. Ausstellungsbesucherinnen und -besucher können auf eine kleine Stufe steigen und durch ein Loch hineinschauen, im Inneren der Quader, die eine Gefängniszelle abbilden sollen, sind kleine Szenen mit ihm als Gefangenen dargestellt. Unvermittelt zu sehen, wie Ai Weiwei als kleines Püppchen auf einer Pritsche liegt und ihn zwei Wärter rund um die Uhr bewachen, verursacht Gänsehaut.

Panda to Panda: Der Plüschbär wirkt unscheinbar, doch sein Inneres ist hochexplosiv.
Panda to Panda: Der Plüschbär wirkt unscheinbar, doch sein Inneres ist hochexplosiv. © Heiko Buschmann

Seine vielleicht subtilste Arbeit aber ist ein fast unscheinbares Plüschtier. In einem kleinen Glaskasten steckt ein Panda, direkt neben einem gewaltigen Rubens-Gemälde auf Lego, in dem sich ebenfalls ein kleiner Bär oben links versteckt. Der Panda in der Vitrine wirkt wie ein Spielzeug für Kinder, das deren Eltern nach der Runde durch die Kunsthal im Museumsshop kaufen könnten. Der Panda ist aber gleich zweifach das Symbol Chinas, eben als ein Bär, der im Reich der Mitte lebt – Panda heißt aber auch die berüchtigte chinesische Geheimpolizei. Der Panda hinter Glas ist ausgestopft, sein Inhalt: geschredderte Dokumente sowie Speicherkarten mit geheimem Material, aufgedeckt durch den Whistleblower Edward Snowden.

Am Ende des Rundgangs ist man geplättet, nicht nur wegen der Macht der Eindrücke, sondern insbesondere wegen ihrer Vielfalt. „Wenn Sie sich alle Exponate in Ruhe studieren und dabei auch die Videos per Audioguide komplett sehen wollen, bräuchten Sie mehrere Tage in der Ausstellung“, weiß Kurator Joris Westerink.

Der Aktivist bleibt positiv

Bei so vielen dringlichen Botschaften zum Weltgeschehen sei an den Künstler und Aktivisten die Frage erlaubt, ob er überhaupt noch an die Menschlichkeit glaube. „Wissen Sie“, entgegnet Ai Weiwei, „unsere Lebenszeit ist begrenzt, daher möchte ich mich nicht zu sehr mit negativen Gedanken beschäftigen.“

Dies auch nicht nach einem Amoklauf, der nur ein paar hundert Meter von ihm entfernt in einer vermeintlich sicheren Stadt wie Rotterdam stattgefunden hat.

Weitere Informationen, Öffnungszeiten und Eintrittspreise unter www.kunsthal.nl.