Essen. Vampire mit Krückstock: Stephen King lässt in seinem neuen Roman menschenfressende Rentner auf ihre Umgebung los. Das Buch als Ganzes enttäuscht
Seit Jahren kultiviert Stephen King nach einem Schöpferleben voll von unglaublichen Schreckensbildern gern die andere, die alltägliche Seite des Grauens. Es wartet dort der Horror nicht im Hubraum („Christine“), kein Satan betreibt die Trödel-Boutique der Begehrlichkeit („In einer kleinen Stadt“). Im Gegenteil: Der Schrecken kommt in Kittelschürze daher. Zeige mir deinen amerikanischen Nachbarn – und ich empfehle dir, das Weite zu suchen. Anders gesagt: Sieh, das Böse liegt so nah.
Menschenfresser von nebenan: Ab heute ist Stephen Kings „Holly“ da
Heute erscheint „Holly“. Ganz sicher ist es nicht sein bester Roman, aber einer mit den heftigsten Ekelszenen in den bald 50 Karrierejahren des King of Horror. Es kommt ja im Leben immer auch drauf an, wer sich daneben benimmt: Viel schrecklicher als jedes menschenfressende Monster ist es halt doch, wenn Opa und Oma sich aus selbstgefangenen Zeitgenossen Rheumasalbe kochen, ein Hirn-Sorbet bereiten oder einander als Krönung eine Studentin auftischen, frisch von der Leber weg.
Wir stellen vor: Emily und Roddy zwei ehrenwerte Hochschullehrer im Ruhestand. Das Paar (er immer schon ein Fleisch-Papst der Ernährungswissenschaft) schreibt mit steigendem Alter dem Verzehr von Menschen verjüngende Wirkung zu. Ihr Kostüm ist das hilflos geriatrische Auftreten in der heimischen Kleinstadt, der Rollstuhl lauert auf der Van-Rampe: „Könnten Sie bitte meinen Mann ..?“ Und schon sitzt die Betäubungsspritze im Genick, das Opfer wenig später im Käfig des Hauskellers, verzehrbereit. „Hänsel und Gretel“ 3.0. Die Alten treiben das eine ganze Weile. Wer sucht schon nach den Opfern bei Leuten, die Shakespeare im Regal haben?!
Herbes Schockszenen, aber der Horror-Roman hat echte Längen
Für einen großen Wurf langt der große Appetit der greisen Menschenfresser freilich nicht. Stephen Kings jüngster Roman ist vielfach ermüdend. Mühelos ließen sich 200 Seiten wegkürzen, weil wir die Recherche seiner Privatermittlerin Holly Gibney (einst Nebenfigur in „Mr. Mercedes“) wahrlich im Schneckengang begleiten; nicht enden wollendes Gequatsche pflastert ihren Weg. Kaum kann man die psychisch lädierte Heldin charismatisch nennen, so detailreich der Erzähler uns ihr Lebensleid serviert, bis hin zu Migräne und Menstruationskrampf. Und dann prasst King, Millionenseller und verkannter Poet zugleich, auch noch mit langatmigen Ausführungen über zeitgenössische Lyrik und ihre Autoren.
Wofür man den Mann aus Maine andererseits immer wieder lieben kann, das ist sein galliger Blick auf das Amerika seiner Zeit. „Holly“ spielt in der hohen Zeit von Corona, eben ist „Delta mit einem neuen Zauberhut voller Tricks eingetroffen“. Und einmal mehr packt King die Trumpisten und ihren gelbhaarigen Erlöser am Schlafittchen, da macht der Erzähler nicht das geringste Federlesen: „Emily hält Donald Trump zwar für einen ungebildeten Rüpel, aber er ist auch ein Zauberer; mit irgendeinem Abrakadabra, das sie nicht begreift (um das sie ihn jedoch im tiefsten Herzen beneidet), hat er Angehörige von Amerikas übergewichtiger, apathischer Mittelschicht in Revolutionäre verwandelt.“
Solche bärbeißige Kommentare überbieten das eigentliche Szenario mühelos. Aber sie bleiben rar, das Buch als Komposition enttäuscht. Mit nun 75 ist Stephen King kaum noch jünger als diese seine jüngsten und also sehr betagten Scheusale. Ein begnadetes Spätwerk haben ihm die alten Sünder nicht beschert.
Stephen King: Holly. Heyne Verlag, 640 Seiten, 28 €. Parallel zum Roman erscheint die ungekürzte Hörbuch-Fassung. Es liest der bewährte David Nathan, Synchronstimme von Johnny Depp und Christian Bale. 3 mp3-CDs, knapp 19 Stunden, 28€.