Essen. Schauspiel Essen startet mit einer feministischen Goethe-Überschreibung in die neue Spielzeit. Warum das Gretchen in „Doktormutter Faust“ fehlt.

Dichterdämmerung im Schauspiel Essen: Erstmals in der Geschichte wird es von einem Intendantinnen-Duo geführt. Auch auf dem Spielplan finden die alten weißen Männer des Repertoires nicht einfach mehr so statt. Zum Spielzeit-Start erfährt Goethes „Faust“ eine feministische Überschreibung, in Fatma Aydemirs zeitgemäßer Fassung wird daraus „Doktormutter Faust“. Der Abend bleibt mit Bezügen von #metoo über Abtreibungsthematik und politischen Rechtsruck bis zu Machtmissbrauch an Hochschulen keine tagespolitischen Anknüpfungspunkte schuldig, wirkt dabei bisweilen aber ein wenig überfrachtet.

Dabei fängt die Uraufführungs-Inszenierung der neuen Co-Intendantin Selen Kara höchst vielversprechend an. Das Vorspiel auf dem Theater macht gleich Schluss mit den alten Zöpfen: Gretchen ist ganz gestrichen. Seit über 200 Jahren hätten wir ja nun gesehen, wie Faust „das arme Flittchen“ schände und ins Verderben stürze, wettern die diversen Bühnenwesen (intensiv: Silvia Weiskopf und Beritan Balci in verschiedenen Nebenrollen). Also Schluss mit der frauenfeindlichen Arme-Mädchen-Geschichte. Fatma Aydemirs frech-ironischer Zugriff macht Lust auf eine neue Lesart des Stoffs, auch wenn von Goethe nicht allzu viel übrig bleibt.

Faust jedenfalls ist nun eine Frau: Margarete, im kobaltblauen Anzug (Kostüme: Anna Maria Schories). Als Wissenschaftlerin hat sie Karriere gemacht. Ihr Einsatz für das Recht auf Abtreibung findet wenig Gegenliebe bei den offenbar ultrakonservativen Vorgesetzten. Nun steht die Kündigung bevor, das Mailfach quillt über vor rechtsnationalen Hassbotschaften an „Professor Doktor Genderterror“. Und dann ist da auch noch das Problem mit der Lust und dem Älterwerden.

„Ich bin doch kein Mann!“

Bettina Engelhardt überzeugt als Wissenschaftlerin in den besten Jahren. Tough, aber nicht unnahbar, kampfbereit, aber bisweilen doch verzagt. Auch wenn man kaum glauben möchte, dass sich diese kluge Frau in der Sinnkrise bei allem Klagen über die lahme Libido gleich die Knarre an den Kopf hält. Aber „zwei Seelen, ach, wohnen in meiner Brust“. Bald aber naht die Rettung in Gestalt von Mephisto. Nicolas Fethi Türksevers Fürst der Finsternis ist ganz gewitzter Schmeichler und genderfluider Kuppler, der Frau Faust den entscheidenden Genusswunsch entlockt.

Ein gemeinsamer Besuch in der stylischen Hexenküche genügt, und die ersehnte Verlockung steht auch schon im Büro. Der junge marokkanische Student Karim (etwas verdruckst: Eren Kavukoğlu) braucht nicht nur eine Doktormutter, sondern auch eine Aufenthaltserlaubnis. Eine gemeinsame Dienstreise nach Paris soll die Affäre ankurbeln. Doch Karim ist einerseits schwul und in Erwartung mütterlichen Besuchs – und spricht andererseits so schön übers Küssen und spielt gut Klavier.

Aydemirs Faust-Fassung unter Gendervorzeichen verkehrt die Rollenbilder, um die Austauschbarkeit der Geschlechter gleichzeitig geschickt zu hinterfragen: „Ich bin doch kein Mann!“, seufzt die lüsterne Margarethe, bevor doch passiert, was die Regie in abstrakten Videoeinspielungen diskret andeutet, während die Nacktheit der Techno-getriebenen Walpurgisnacht-Party alle sinnlichen Reize ausspielen darf. Am Ende hat Karim Anzeige erstattet und Margarete sitzt im Knast.

Wo endet Verführung, wo fängt Missbrauch an? Wann sind Beziehungen einvernehmlich und wer benutzt am Ende wen? Fatma Aydemir will kein Macht-Missbrauchs-Drama in Schwarz-Weiß, kein Täter-Opfer-Schema, sondern die Grauzonen beleuchten. Der differenzierte Ansatz geht bisweilen aber auf Kosten der emotionalen Dringlichkeit. Dass hier moralische Gerüste einstürzen, jemand in existenzielle Nöte gerät, wird nur vage spürbar.

Gefangen im eigenen Körper

Gleichwohl gelingen dem Abend immer wieder starke Momente; allein die Videobilder von Florian Schaumberger spielen faszinierend mit der Vielschichtigkeit vom Werden und Sein. Selen Kara vertraut in ihrer klugen Antritts-Inszenierung im Sinne Goethes ansonsten vor allem auf das Wort. Die Figuren kreisen auf der großen, leeren Drehbühne von Lydia Merkel fast unablässig um sich und die großen Seinsfragen, bemüht, auch identitätspolitische Satzschablonen mit Lust und Ironie zu brechen. Gerichtet und gerettet wird hier nicht. Der engste Käfig kann eben auch in Zeiten genderfluider Durchlässigkeit der eigene Körper sein, selbst wenn er nur ein Konstrukt ist.

Das Premierenpublikum feierte den Eröffnungsabend euphorisch.

<<<<<< Karten und Termine:

„Doktormutter Faust“ von Fatma Aydemir, frei nach J. W. von Goethe, 100 Minuten, keine Pause.

Weitere Termine: 28./30. September, 1. und 13. Oktober. Infos und Karten: www.theater-essen.de