Essen. Das Essener Museum Folkwang zeigt Paris als Hauptstadt der Druckgrafik – von Henri Toulouse-Lautrec bis David Lynch.
Die Grafik ist das stille Kind der Museumsfamilie, aber jetzt hebt das Folkwang sie aufs Podest – und siehe da: Sie kann frech sein wie Karikaturen, prächtig wie Gemälde und präsent wie eine Skulptur. Das Leben ist so prall und bunt, dass es knallt in Fernand Lègers Zirkus-Lithografien, und gegenüber glüht ein Chagall in den chagalligsten Farben, die man sich nur denken kann, und das antike Liebesabenteuer von Daphnis und Chloe erwacht zu pulswarmem Leben.
Wer hat eigentlich behauptet, Grafik sei weniger wert als Malerei? Ja, sie ist preiswerter in der Anschaffung und wird niemals zwei oder gar dreistellige Millionensummen auf Auktionen erbringen. Aber was sagt das denn über ihren künstlerischen Wert? Oder über das technische Raffinement ihrer Herstellung? Für die 130 Exemplare eines Gedichtbands von Paul Eluard, die Joan Miró mit 80 fröhlich frechfarbigen Farbholzschnitten zu einer nicht mal kleinen künstlerischen Sensation gemacht hat, waren – festhalten – 42.000 Druckvorgänge nötig.
Mit dem Plakat-Boom durch Henri Toulouse-Lautrec und andere fing es an
Eine uralte Steindruckmaschine, auf der einer dieser zentnerschweren, sehr wertvollen Lithografie-Steine noch von Hand durch die Presse bewegt werden musste, steht denn auch ganz am Anfang der chronologisch aufgebauten Folkwang-Schau mit Höhepunkten künstlerischer Drucke. Ende des 19. Jahrhunderts gab es tatsächlich eine Grafik-Mode in Paris – die Blätter lagen und hingen in Schaufenstern aus. Ausgelöst wurde der Boom von der Plakatkunst, die kurz zuvor mit Henri Toulouse-Lautrec, Théophile-Alexandre Steinlen und Reinhard Mucha eine künstlerisch kaum je wieder erreichte Blüte getrieben hatte. Was als Ankündigungs- oder Werbeplakat gedacht war, ließ man sich in Paris mit der Post kommen, um die heimischen Wände damit zu tapezieren.
Matisse in einer Rekordauflage von 1200 Stück, Delaunay, Max Ernst und George Braque
Was die Künstlerbücher und Mappenwerke, die das nächste große Ding wurden, etwas anfechtbar macht: Dass sie extra und nur für den Markt produziert wurden. In der Regel ging ein Verleger oder Galerist – die Grenzen zwischen beiden Berufen schwanden mit dem Erfolg der Gattung immer mehr – zum Künstler und gab ihm das Thema vor. Aber die Künstler nahmen sich jede erdenkliche Freiheit in Form und Farbe: Henri Matisse ließ in seinem legendären „Jazz“-Mappenwerk von 1947, das ursprünglich „Zirkus“ heißen sollte Lithografien nach farbigen Scherenschnitten herstellen; für die Gedichte des Herzogs Karl von Orlèans dagegen (gedruckt in einer Rekord-Auflage von 1200, meist blieb die Zahl dreistellig) beließ es Matisse bei lieblichen, nicht ganz kitschfreien Blüten und Porträtskizzen.
Robert Delaunay steuerte 20 Lithografien zu dem wunderbar heiteren Buch „Allo! Paris!“ bei, die grandiose Stadt-Blicke boten – der Text dazu handelt von einem Außerirdischen, der in Paris anruft und alles Wissenswerte über die Stadt erfragt. Und Max Ernst mit seinen unerreicht skurril-mysteriösen Collagen in „Eine Woche der Güte“! Und Picassos „Tauromaquia“, die er mit Pinsel auf Druckplatten zeichnete! Und George Braque, der sich mit seinen Illustrationen zur „Theogenie“ von Hesiod einmal mehr als der bessere Picasso erweist!
Grafik von David Lynch – und ein Film von ihm übers Drucken
Ambroise Vollard (bei dem auch Folkwang-Gründer Karl Ernst Osthaus gern auf Einkaufstour ging) war vielleicht der berühmteste unter den Verlegergaleristen – Pablo Picassos „Suite Vollard“ wurde gar nach ihm benannt, weil er die Idee hatte, 100 Grafiken des Genies in einer Mappe zu verkaufen. Und von wegen keine Höchstpreise: Einzelne Blätter der Suite sind für etwa 35.000 Euro zu haben, für die komplette Serie dürfte mehr als das Hundertfache fällig werden. Die Blätter im Folkwang sind Leihgaben aus dem Picasso-Museum in Münster.
Paris blieb jedenfalls fast das gesamte 20. Jahrhundert hindurch die Hauptstadt der künstlerischen Drucktechnik, Werkstätten wie die von Fernand Mourlot genossen einen weltweiten Ruf. Auf deren Maschinen werden bis heute etwa die Lithografien des Filmemachers David Lynch gedruckt, der ja als Maler und Zeichner begonnen hat. Er drehte auch einen Acht-Minuten-Film über den Druckvorgang im typischen Lynch-Stil, der den Schlussakkord dieser sehenswerten Folkwang-Ausstellung bildet.
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Zur Ausstellung:
„Chagall, Matisse, Miró. Made in Paris“. Museum Folkwang, Museumsplatz 1, 45128 Essen. Bis 7. Januar 2024.
Geöffnet: Di-So 10-18 Uhr, Do/Fr bis 20 Uhr. Eintritt: 10 €, erm. 8 €. Familien: 20,50 €. Zeitfenster-Tickets (empfohlen): https://museum-folkwang-ticketfritz.de
Die Folkwang-App führt in 18 „Tracks“ durch die Ausstellung. Kostenlose Führungen: Do 18 Uhr und So 12 Uhr. Katalog: Steidl Verlag, 38 €.