Essen. Eine Milliarde Dollar brachte der Aufstieg lateinamerikanischen Pops 2022 allein in den USA ein. Deutschland überhört die heißen Rhythmen bisher.
Die Deutschen sind ein bisschen spät dran, wie so oft. Da legt der schlaksige Bariton-Mann aus Puerto Rico, der sich Bad Bunny nennt und 29 Jahre alt ist, mit „Un Verano Sin Ti“ nicht nur das weltweit am häufigsten verkaufte Album des Jahres 2022 hin, sondern ist auch im dritten Jahr in Folge global der Künstler mit den meisten Streams überhaupt (also selbst vor Leuten wie Ed Sheeran und Taylor Swift). Auch live läuft es bombig: Beim berühmten Coachella-Festival im April war der vom Wesen eher introvertierte Musiker, der bürgerlich Benito Antonia Martínez Ocasio heißt, der erste lateinamerikanische und spanischsprachige Headliner in der dreißigjährigen Geschichte. Und 2022 brach der Sohn einer Lehrerin und eines Lastwagenfahrers, der im Kirchenkinderchor das Singen anfing, mit 435 Millionen US-Dollar den Weltrekord für die höchsten Tournee-Einnahmen in einem Kalenderjahr. Im deutschsprachigen Raum derweil knabbert Bad Bunny noch immer ziemlich kleine Möhrchen. So hoppelte er In Deutschland mit seinem Welterfolgsalbum nur auf einen sehr lauen Platz 35 in den Albumcharts, und während er sonst wo auf der Welt die Stadien füllt, schaut er bei uns gar nicht erst vorbei.
Die Sommermonate, in denen wir traditionell ein etwas offeneres Ohr für Was-der-Bauer-nicht-kennt-das-probiert-er-ja-vielleicht-doch-endlich-mal-Musik haben, sind nun die ideale Jahreszeit für ein bisschen Anhörungsunterricht. Jetzt oder nie. Denn es bewegt sich gerade richtig was. Die Poplandschaft, wie wir sie kennen, ist gewaltig im Umbruch. Die Präferenzen wandeln und entwickeln sich, die Geschmäcker werden immer diverser und internationaler, die Tage der Dominanz englischsprachiger Pop- und Rockmusik scheinen gezählt, wenn sie nicht gar schon vorbei sind. K-Pop aus Südkorea ist der eine Megatrend, es gibt ihn schon ein paar Jährchen länger.
Weltweit explodieren die Erfolgszahlen für neue Musik aus Südamerika
Doch noch stärker brodelt und blubbert es auf der anderen Seite der Erde, in Puerto Rico, in Guadalajara, in Medellín. Die weltweiten Streaming-Zahlen im Latin-Segment (klassische Tonträger wie LPs oder CDs spielen hier übrigens fast keine Rolle) sind von 2021 auf 2022 um 33 Prozent explodiert. In den USA, dem größten Latin-Markt außerhalb Lateinamerikas, allein vierzig Millionen Menschen mit mexikanischem Migrationshintergrund leben dort, stieg der Umsatz mit Musik aus sämtlichen Latin-Genres um 24 Prozent auf eine Milliarde Dollar. Und in den globalen Charts des Streaming-Unternehmens Spotify bestanden die Top Fünf im Juni zeitweilig allesamt aus Songs in spanischer Sprache.
Der Boom der Latin Music ist gerade die ganz große Erfolgsgeschichte der Musikindustrie – umso verwunderlicher, dass wir hierzulande bislang so wenig davon mitbekommen haben. Ertragen die Deutschen lateinamerikanische Rhythmen etwa nur dann, wenn sie in ihrem geliebten Schlagershows am Samstagabend oder Sonntagmittag dazu schunkeln und beschwipst mitklatschen können, so wie es zuletzt bei Luis Fonsi und seinem Überhit „Despacito“ 2017 der Fall war? Oder ist ihnen die Sprachbarriere zu hoch? Die Künstler und Künstlerinnen der letzten großen Latin-Pop-Welle um die Jahrtausendwende – Ricky Martin, Jennifer Lopez, Enrique Iglesias, Shakira – übersetzten ihre Hits noch ins Englische, die neue Generation hingegen singt konsequent in der Muttersprache.
Die neuen Stars des Latino-Pop stehen zu ihrer Muttersprache
Es ist ja längst nicht nur Bad Bunny, der das Feuer anfacht. Karol G, auch aus Puerto Rico, hatte in den USA ein Nummer-Eins-Album, Landsmann Myke Towers steht mit seinem Hit „Lala“ gerade global ganz oben, aber auch in Spanien, dem noch mit Abstand größten Latin-Music-Markt Europas ist „Lala“ auf Eins, und Pop-Visionärin Rosalía aus Barcelona bezaubert gerade überall das Publikum auf den großen Open-Air-Festivals. Stilistisch wird das Ganze immer vielfältiger und fluider. War lange Reggaeton – ein Mix aus Reggae, R&B, Hip-Hop und elektronischen Beats – das dominierende Genre, so ist erst seit ein paar Monaten traditionelle Volksmusik aus Mexiko das ganz, ganz heiße Ding. Die sogenannte música Mexicana ist ein weites, buntes Feld, irgendwo zwischen Mariachi, Salsa, etwas Jazz und Folklore, charakteristische Instrumente sind die akustische Gitarre und die Posaune. Regionale mexikanische Musik existiert seit 150 Jahren und war lange als vermeintliche Musik der Unterschicht und der Ungebildeten schlecht beleumundet, vor allem in Mexiko selbst wurde sie – ähnlich wie lange der deutsche Schlager - mit einer gewissen Hochnäsigkeit und Geringschätzung betrachtet.
Diese Zeiten sind vorbei. „Mexikanische Musik ist absolut in der Popkultur angekommen“, sagt etwa AJ Ramos, der bei Youtube das Geschäft mit Latin Music leitet. Um 42 Prozent sind die gesamten Streams mexikanischer Musik binnen eines Jahres geklettert.
Hauptverantwortlich für die heftige Hip-Werdung ist eine Reihe junger Künstler, die in ihren Liedern altbewährte Elemente mit modernen Sounds, aktuellen Texten und einer frischen, urbanen Präsentation verbinden und mit ihren sogenannten „Corridos Tumbados“ einigermaßen plötzlich die jungen Menschen erreichen. Der führende Vertreter nennt sich Peso Pluma, heißt eigentlich Hassan Kabande, ist 24, klein und quirlig, hat ein Al-Capone-Tattoo auf dem rechten Unterarm, trägt auf der Bühne manchmal eine Spider-Man-Maske sowie eine fragwürdige Irgendwie-Frisur, und sogar die liegt gerade im Trend bei der Jugend, heißt es.
Peso Pluma steht für einen neuen Typ des Latino-Barden, weniger Macho, weniger vulgär
Peso Pluma ist erst seit April 2022 wirklich aktiv, „Génesis“ heißt sein wenige Wochen junges Album, und „Ella Baila Sola“ ist nicht nur sein bisher größter Hit, sondern ein wirklich äußerst geschmeidiges und gefälliges Stück Musik, leicht bekifft klingend, mit extra viel Posaune und zusammen mit den Kollegen der Band Eslabon Armado aufgenommen.
Überhaupt: Kollaborationen geschehen in der Latin Music links, rechts, vorn und hinten. Auf achtzehn seiner bislang zwanzig Hitsingles ist Peso Pluma nicht allein. Mit dem angesagten argentinischen Produzenten Bizarrap ist er gerade auf „Bzrp Music Sessions, Vol. 55“ zu hören, das Scheinwerferlicht im Remix von „La Bebe“, auch das just ein Riesenhit, teilt er sich mit Sänger und Rapper Yng Lvcas. Auch Reggaeton-Experte Bad Bunny zeigt sich wendig und hat mit „Un x100 to“, einem Duett mit der (in Texas beheimateten) mexikanisch-traditionellen Grupo Frontera, gerade einen weiteren seiner kaum noch zu überblickenden Charterfolge.
Generalüberholt und an den Harry-Styles-Zeitgeist angepasst ist auch das Erscheinungsbild der jungen Latin-Buben. Das vulgäre, Macho-mäßige und übertrieben sexualisierte Auftreten etwa der ins zweite Glied gerückten Sänger J Balvin oder Maluma ist der Generation Z bekanntlich nicht mehr so gut vermittelbar. Ein Peso Pluma wirkt nun wirkt sehr gechillt und fast schüchtern, Bad Bunny trägt auch schon mal Rock und lackierte Nägel und bezieht öffentlich Stellung für die Rechte von Transgendermenschen. Lieb und sehr inoffensiv wirkt auch Manuel Turizo, den wir bei der Präsentation seines neuen Albums „2000“ in London kennenlernen. Der 23-Jährige kommt aus Kolumbien, wirkt charmant und bescheiden, ist aber ebenfalls schon im spanischsprachigen Teil der Erde ein Superstar.
Selbst der große Chris Martin outet sich als Fan
Chris Martin liebt Turizos tatsächlich sehr rhythmischen und geschmeidigen Top-Hit „La Bachata“ (benannt nach einem populären Tanz aus der Dominikanischen Republik) gar so sehr, dass er den jungen Manuel beim Coldplay-Konzert in Bogota zu sich auf die Bühne bat, gemeinsam sangen und tanzten sie „La Bachata“. „Streaming und TikTok und die ganzen Zahlen sind schon sehr wichtig“, sagt Turizo, „doch auf Dauer entscheidend ist, dass die Menschen mich und vor allem meine Musik auch wirklich mögen.“
Für uns trendmäßig abgehängten Mitteleuropäer hat sich Manuel Turizos Plattenfirma nun zu einem nicht sehr originellen, aber potenziell sehr wirkungsvollen Schritt entschieden: Der kreativen Zusammenführung mit seiner Landsfrau Shakira (46), der Grande Dame des Latin Pop, deren Karriere dank des Booms ja sowieso gerade wieder ins Florieren kommt. „Copa Vacia“ heißt der Song der beiden, zu Deutsch „leere Tasse“. Es geht in dem Lied um Sex.