Herne. Corona hat verheerende Folgen, sagt ein Herner Vereinschef. Entstanden sei eine „Corona-Generation“ mit wenig Bildung und wenig emotionale Nähe.

Michael Pfister, Chef des Vereins Sunrise-Ruhr in Herne, schlägt Alarm: Kinder und Jugendliche hätten unter Corona schwer gelitten, die Folgen für sie, aber auch für die Gesellschaft seien besorgniserregend. Nötig sei ein schnelles, konsequentes Eingreifen, fordert der 50-Jährige im Interview mit der WAZ.

Sie arbeiten mit Kindern, Jugendlichen und Familien. Was hat Corona mit den Kindern gemacht?

Die Folgen sind dramatisch. Wir erleben in unserer täglichen Arbeit, dass durch den Lockdown verheerende Lücken entstanden sind. Es entsteht eine Art „Corona-Generation“, eine Generation, die wenig Bildung, wenig emotionale Nähe und auch viel zu wenig Akzeptanz erfährt.

Welchen Anteil hat Schule an dieser Entwicklung?

In der Schule ist viel verloren gegangen. Die meisten Kinder und Jugendlichen hatten keinen digitalen Unterricht, im Lockdown bekamen sie alle 14 Tage einen Stapel Arbeitsblätter, die sie dann in den nächsten zwei Wochen durcharbeiten sollten. Da machten sie dann zwölf Tage erst mal gar nichts. Sie saßen stattdessen bis nachts vor ihren Handys. Wir haben dann versucht zu helfen, so gut es geht. Per Videochats sind wir mit den Schülern die Aufgaben am Ende durchgegangen – ausgerechnet über die Handys, die wir sonst eher außen vorlassen. Zum Teil haben wir uns erst mal selbst über die Themen fit machen müssen, etwa über Youtube, um überhaupt helfen zu können.

Was sind die Folgen dieser schulischen Misere?

Die Gesellschaft, und dazu gehört gerade auch die Jugend, verdummt durch Corona. Das fängt bei den Grundrechenarten wie dem kleinen Einmaleins an und geht bis zur Rechtschreibung mit 50 bis 60 Fehlern auf einer Seite. Von der Grammatik ganz zu schweigen. Auch Lernbereitschaft und Konzentration bereiten mir große Kopfschmerzen.

Mit einigen Kindern und Jugendlichen, die der Verein Sunrise-Ruhr betreut: Michael Pfister (50). Im Bild v.l. Melina (12), Zarah-Lina (12), Lina (12) Valeria (9) Melisa (12), Sarah (19) und Maria (12) vor der Akademie Mont-Cenis.
Mit einigen Kindern und Jugendlichen, die der Verein Sunrise-Ruhr betreut: Michael Pfister (50). Im Bild v.l. Melina (12), Zarah-Lina (12), Lina (12) Valeria (9) Melisa (12), Sarah (19) und Maria (12) vor der Akademie Mont-Cenis. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Wie reagieren die Schulen auf diese Corona-Folgen?

Viele Lehrer sagen, dass sie einen Lehrplan hätten, nach dem sie sich richten müssten. Am Montag sei bereits das nächste Thema dran. Sie ziehen ihren Plan einfach durch, ohne Rücksicht auf Verluste. Natürlich gibt es auch andere Lehrer, die versuchen, die Folgen irgendwie auszugleichen. Aber das ist es ja schwierig bei so einer Masse an Schülern.

Lerndefizite sind das eine. Was hat Corona mit den Heranwachsenden psychisch gemacht?

Auch im emotionalen Bereich sehe ich sehr große Probleme. Viele Kinder und Jugendliche sind zurückhaltender geworden, stiller, ernster, in sich gekehrt. Sie wollen nicht mehr rausgehen, sind antriebslos, haben keine Motivation mehr. Sie ziehen sich lieber mit ihrem Handy in die Ecke zurück. Das Handy steht jetzt absolut im Mittelpunkt, ohne können sie nicht mehr spielen. Auch das Miteinander hat gelitten: Ein Miteinander, wie wir es von früher auch in der Familie kannten, gibt es kaum noch. In einer Klassengemeinschaft ist heute jeder bereit, den eigenen Vorteil zu nutzen, auch, wenn es dafür nötig ist, andere zu verraten und zu verkaufen. Außerdem wird mehr gemobbt, aber auch der Respekt vor anderen geht verloren, und nicht zuletzt sinkt die Hemmschwelle für Gewalt.

Wer muss dafür sorgen, dass diese Entwicklung gestoppt, ja rückgängig gemacht wird?

Weder Schule noch Eltern oder Freizeiteinrichtungen wie beispielsweise Vereine können das komplett leisten. Siehe das Elternhaus: Die Eltern erkennen oft gar nicht die Probleme ihrer Kinder. Woher auch? Die Corona-Folgen sind bei ihnen ja oft dieselben. Der Umgangston in den Familien ist rauer geworden. Wir merken das daran, dass viele Kinder, die von uns betreut werden, abends oft gar nicht nach Hause wollen.

In der Pandemie waren Schulen lange Zeit dicht, viele Kinder waren auf sich allein gestellt.
In der Pandemie waren Schulen lange Zeit dicht, viele Kinder waren auf sich allein gestellt. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Heißt?

Die Politik ist am Zuge. Sie muss endlich aufwachen und dem Ganzen entgegenwirken – und das unabhängig davon, dass man vor einer Wahl etwas verspricht, was hinterher nicht eingehalten wird. Politiker sagen doch immer so gerne, dass Kinder unsere Zukunft sind.

Wie kann die Politik einwirken?

Wir brauchen natürlich bessere Voraussetzungen an den Schulen. Dazu gehören auch mehr Fachpersonal, bessere Lehrbücher. Es darf nicht so sein wie bei der Inklusion: etwas beschließen, was in der Theorie wunderbar ist, das aber dann mangels Ausstattung nicht funktioniert. Dann bleiben die Kinder, die benachteiligt sind, wieder auf der Strecke.

Können gut ausgestattete Schulen das Beheben der Corona-Defizite allein leisten?

Nein. Da sind viele gefordert. In die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen müssen vor allem auch die Eltern viel stärker eingebaut werden. Viele schicken ihre Kinder weg, sind froh, wenn die raus sind aus dem Haus. Auch werden dort keine Werte wie Respekt mehr vorgelebt, Umgangsformen leiden. Wir achten bei uns im Verein sehr auf die Vermittlung von Werten und Umgangsformen, und das klappt auch. Wenn die Kinder dann übers Wochenende zu Hause sind, müssen wir aber oft genug am Montag wieder von vorne anfangen. Eltern interessiert das nicht mehr. Wir brauchen starke Kinder.

Zu Hause alleine lernen? Homeschooling hat während Corona oft gar nicht funktioniert, so der Vereinschef.
Zu Hause alleine lernen? Homeschooling hat während Corona oft gar nicht funktioniert, so der Vereinschef. © FUNKE Foto Services | Svenja Hanusch

Wie kommt man an die Eltern ran?

Über die Schule, Jugendeinrichtungen, Vereine oder Kirchen. Eltern müssen dort präsenter sein, dann kann man verstärkt an sie herankommen. Das geht etwa bei der Anmeldung los, ab dann muss man mit ihnen in einem kontinuierlichen Austausch stehen – um Einfluss auf die Erziehung nehmen zu können.

Dann müssen sich diese Einrichtungen zum Teil aber auch wandeln.

Ja. Etwa die Kirchen: Viele Gemeinden drehen sich leider nur um sich selbst, um ihre Leute, die sie kennen, um ihre wohlbehüteten Familien. Das sage ich als Christ. Die Menschen, die wirklich mal Gemeinde bräuchten, ein offenes Angebot, die erreichen die Pastoren nicht, und Angebote gibt es für sie keine. Da reicht es nicht, zu Grillabenden einzuladen und zu sagen, jeder ist herzlich willkommen.

Was ist die Konsequenz, wenn sich die Gesellschaft jetzt nicht für die Corona-Generation engagiert?

Dann gehen wir düsteren Zeiten entgegen. Wir haben die Befürchtung, dass dann immer mehr Kinder und Jugendliche durchs Raster fallen und ganz abdriften. Es wird dann nur noch wenige Benachteiligte geben, die den Anschluss und somit die Kurve kriegen.

>>> Der Verein: Vor elf Jahren gegründet

Michael Pfister (50) hat den Verein Sunrise-Ruhr vor elf Jahren gegründet und ist seitdem der Vorstandsvorsitzende. Beruflich arbeitet der ausgebildete Krankenpfleger beim Familienunterstützenden Dienst der Lebenshilfe Bochum. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und wohnt in Sodingen.

Sunrise e.V. versteht sich als „Verein für Generationen“. Die wichtigsten Ziele sind laut Eigenbeschreibung die Stärkung des Selbstwertgefühls und des Selbstvertrauens sowie die Befähigung von Kindern und Jugendlichen zum sozialen Handeln und die Förderung von Gemeinschaft und Beziehung untereinander.

Hauptsäule ist ein Kinder- und Jugendbereich. Ein halbes Dutzend überwiegend ehrenamtliche Betreuerinnen und Betreuer kümmert sich aktuell um 31 Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 17 Jahren. Ab 16 Uhr bieten sie in der Stadtmission Ostbachtal dienstags bis freitags Angebote und Projekte an, darunter Sport, Selbstverteidigung, Musik, Tanz, Natur oder Kochen und Backen. Hinzu kommen Ferienprogramme. Außerdem kümmert sich der Verein um Seniorinnen und Senioren, die Kinder und Jugendlichen besuchen sie etwa in Senioreneinrichtungen, mit denen Sunrise eine Kooperation eingegangen ist.

Der Verein finanziert sich aus einem monatlichen Beitrag von 5 Euro pro Kind sowie aus Spenden. Weitere Informationen gibt’s im Internet: https://www.sunriseruhr.de