Mülheim. Jahrzehnte nach Handke wird nicht mehr das Publikum beschimpft. Jetzt geht es ans Eingemachte hinterm Vorhang. Eröffnung der Mülheimer „Stücke“!

„Ernsthaft, wer will einer Gruppe selbstbezogener Künstler dabei zuhören, wie schwer es ist, ein selbstbezogener Künstler zu sein“. Eine Zeile aus Sivan Ben Yishais „Bühnenbeschimpfung“, die – in Sebastian Nüblings Inszenierung am Berliner Maxim Gorki Theater – in der Stadthalle den Wettbewerb um den 48. Mülheimer Dramatikpreis eröffnete. Ein Satz, eindeutig selbstironisch gemeint, der gleichwohl das Problem auf den Punkt bringt.

Ben Yishai, die 2022 für „Wounds Are Forever – Selbstporträt einer Nationaldichterin“ den Dramatikpreis erhielt, nimmt bewusst Bezug auf Peter Handkes vor 56 Jahren unter Claus Peymann uraufgeführte „Publikumsbeschimpfung“. Diesem radikalen Text, der für den Zuschauer in jeder Hinsicht eine Herausforderung war, stellt sie eine Selbstbeschimpfung entgegen. Es geht um die (Macht-)Strukturen am (Stadt-)Theater, um Konformismus, Arbeitsbedingungen und Gagengefälle, vor allem aber um die Schauspielerinnen und Schauspieler, die wenig mehr sind als „Körper“, als Verrichtungsgehilfen in einer starren Institution mit unausgesprochenen Compliance-Regeln.

Mülheims Stücke eröffnen höchst anregend mit der „Bühnenbeschimpfung“

Das Theater als politisches Podium, die Schaubühne als moralische Instanz? Es kann gut sein, heißt es bei Ben Yishai, dass die Darsteller „den Text hassen, ihm zutiefst widersprechen, kann sein, dass sie sich sogar von ihm angegriffen fühlen, aber sie werden auf die Bühne gehen und dafür sorgen, dass die Vorstellung läuft. Sie werden die Vorstellung durchziehen, und erst spätnachts, hinter verschlossenen Türen, werden sie anfangen zu reden. Zu lästern. Sie lästern. Sie lästern, bis ihre Zungen trocken und löchrig werden.“ Denn „wir sprechen nicht über den Stücktext, wir sprechen über das Skript.“

Diese mit überraschenden Possen und alltäglichen Peinlichkeiten bestückte Bühnenbeschimpfung, die auch die Schau auf den konsumierenden Theaterzuschauer und dessen zu erfüllende Erwartungen einbezieht, ist intelligent, abgründig, voll bösen Witzes. Sie ist aber auch, zumal in Nüblings furioser Inszenierung, die allerdings gefühlte 30 Prozent des Uraufführungstextes durch eigene Ideen ersetzt, als reine Innenschau ein Revue-Kabarett auf dem Theater über das Theater.

Am Ende bleibt die Frage nach dem „cui bono“. Wem nützt diese Selbstbespiegelung, was nimmt man als Erkenntnis und Fazit mit? Auf jeden Fall die Gewissheit, dass die vier einfach tollen Ensemblemitglieder auch aus dem Skript eines Branchenverzeichnisses ein grandioses Erlebnis machen könnten.

Nächste Aufführung bei den „Stücken“ im Mülheimer Dramatikerwettbewerb: Elfriede Jelinek, „Angabe der Person“ (16.5.), 19.30h, Stadthalle