Am Niederrhein. . Musikfestivals gibt es wie Kühe am Niederrhein. Seit 35 Jahren wandelt sich Haldern Pop, damit es bestehen kann. Und es verändert die Heimat.
Auf halbem Weg zwischen dem Festivalgelände auf einem Reitplatz im Nirgendwo und dem Dorfkern mit St. Georg-Kirche, Jugendheim und Pop Bar liegt in Haldern eine Bushaltestelle mit dem ulkigen Namen „Transformator“. So könnte eine Band heißen, so aber ist auch die Aufgabe umschrieben, die das Haldern Pop Festival seit 35 Jahren innehat – gerade mal 15 Jahre nach Woodstock, was heute klingt wie Jungsteinzeit.
Gewiss, auf den ersten Blick ist es ein Festival wie viele andere. Mit Headlinern, die in diesem Jahr etwa Kettcar, Nils Frahm oder Philipp Poisel heißen. Oder Bands, die einfach gute Musik machen und die Menschen gemeinsam feiern lassen wie The Lemon Twigs, Amyl and The Sniffers, Sean Kuti & Egypt 80, The Lytics oder Dirty Projectors. So weit, so normal.
„Das Fremde hat uns stets bereichert“
Was nicht normal ist: Dass eine CDU-Staatssekretärin (Serap Güler) kommt, um vor immerhin auch einer fett dreistelligen Zuhörerzahl mit einem Soziologieprofessor und einem Schweizer Festivalmacher (Daniel Fontana) zu diskutieren.
„Das Fremde hat uns stets bereichert“ lautet die Arbeitsthese, der Diskussion, die dann allerdings eher ins Free-Jazzige der Argumente (mit den besten Soli bei Soziologieprofessor Prof. Dr. Armin Nassehi) übergeht.
Aber immerhin tritt hier zutage, was Haldern eben auch ist: Ein Festival, das sich selbst zum Thema macht. Und damit die Frage, inwiefern Musik Transformator ist für gesellschaftliche Entwicklungen. Oder gar die Kraft entwickeln muss, zum Retter der Pluralität und der Meinungs- und Geschmacksfreiheit werden zu müssen.
Das war der 2. Tag beim Haldern Pop in Rees
„Humanität ist nicht verhandelbar“
Insofern war Kettcar am Samstagabend der schlüssige Headliner. Denn der Kopf der Band, Marcus Wiebusch, stellt nicht nur klar. „Humanität ist nicht verhandelbar“, sondern durchdringt in seinen Liedern auch politische und gesellschaftliche Entwicklungen. Und macht dazu noch gute Laune. Insofern: ein idealtypischer Haldern-Act.
Fest steht: Haldern Pop 2018 klang internationaler als je zuvor. Mit Gästen aus Japan, Neuseeland, Nigeria, Südafrika. Es klang auch weitaus experimenteller, vor allem am Freitag und es hat sich schon in der Vergangenheit deutlich stärker elektronischen Klängen und dem HipHop geöffnet – während in diesem Jahr vor allem der Samstag wieder der Tag am Gitarrenriff war. Das aber ist nicht alles.
Wo gibt es das schon, dass tausende Menschen lauschen, wie ein klassisches Ensemble zu Strawinskys Feuervogel mit einem auch bei der Biennale aktiven HipHopper musiziert? Oder die große Bühne zur Hauptzeit einem einsamen, weitgehend unbekannten Schweizer Akkordeonspieler namens Mario Batkovic zur Verfügung steht? Der dann später von Band und klassischem Chor unterstützt wird, so dass ein Hauch von „Carmina Burana“ bei Wind und Regengischt über den Platz hallt?
Tausende Menschen hören eine Musik jenseits von Playlist und Formatradio. Bislang Unerhörtes wird hörbar, findet offene Ohren – und transformiert. Das sind die Momente, in denen dieses Festival – nicht zum ersten und gewiss nicht zum letzten Mal – alles wagt.
Gewinner: Das Dorf, die Region, die Generationen
Auftakt - Das war Tag 1 beim 35. Haldern Pop in Rees
Und über dreieinhalb Jahrzehnte vieles gewinnen konnte: Reputation als Veranstalter, Zustimmung im ganzen Dorf, das erkannt hat, dass Musik Wertschöpfung ist, kulturell, monetär und als Landmarke in den Köpfen. Und nebenbei mittlerweile mit dem Chor „Cantus Domus“ und dem klassisch geschulten Ensemble von „Stargaze“ beinahe so etwas wie Hausmusiker hat, die den Auftritten vieler Künstler den besonderen Haldern-Akzent verleihen.
Das Dorf, die Region, die Generationen – das hat Haldern Pop für sich gewonnen: Hier verirren sich Rentner nicht hin, wie jüngst in Wacken. Hier kommen sie gezielt, im Zweifel mit Enkeln im Bollerwagen. Das niederrheinische Dorf hat das Festival mit Musikern aus aller Welt bereichernd angenommen. Was noch fehlt, ist auch ein Publikum aus aller Welt: Menschen mit internationaler Geschichte sucht man unter den Zuhörern noch weitgehend vergeblich. Doch Haldern wäre nicht Haldern, würde nicht auch diese Transformation gelingen können.
Auftritte, die uns auffielen