Mülheim. In den 80er Jahren war die Punkband Bluttat ein Begriff in der Szene. Jetzt, 30 Jahre später, gingen die Musiker auf Tournee durch Kolumbien.
Genauso stellt man sich die Kulisse für Giganten der Rockmusik vor: Menschen, die weinen und kreischen, wenn sie mit „ihren“ Stars auf Tuchfühlung gehen dürfen. Fans, die stundenlang für Karten anstehen oder tagelange Reisen in Kauf nehmen, um ein Konzert ihrer Helden zu erleben. Stars, die auf der Straße erkannt und bejubelt werden.
Doch diese Geschichte handelt nicht von den Stones oder Lenny Kravitz. Sondern von Bluttat. Und sie spielt nicht in den USA oder Europa, sondern in Kolumbien.
Sie handelt davon, wie sich die Mitglieder einer Punkband, die sich in den 80er Jahren gründete, in der Szene einige Erfolge feierte und sich dann wieder auflöste, mehr als 30 Jahre später an einem fernen Ort als Superstars wiederfanden. Verrückte Geschichte? Ziemlich verrückt. Und bewegend. Doch von vorne.
Mülheim an der Ruhr, 1981. Die Zeit war wild, zumindest für diejenigen, die damals jung waren. Es war die Zeit, als Wohnraum knapp war. Es war die Zeit für Spekulanten. Und den Protest dagegen. Wohnungen, Häuser, Fabriken wurden besetzt und zum Schmelztiegel unterschiedlichster Gruppierungen. Politisch Engagierte, Punks, Freaks, Künstler, Linke, Aktivisten. Irgendwann in diesem Jahr liefen sich in einer besetzten Malzfabrik hinterm Hauptbahnhof zufällig vier Leute über den Weg. Hans-Uwe Koch, 21, und Jörg Ramin, 19, waren soeben dabei, eine neue Band zu gründen, als ihnen Anja „Atti“ Mülders und Ralph Mertingk, beide gerade mal 14 Jahre alt, begegneten. Alle wollten eins: Musik machen, Musik als Kommentar zur Gegenwart. Anja war gerade von einem Englandaufenthalt zurückgekehrt - „und zwar als Punkrockerin“.
Hans-Uwe (Bass), Jörg (Gitarre), Ralph (Schlagzeug) und Anja (Gesang) wurden „Bluttat“, sie spielten und sangen Punk, bei dem sie deutsche und englische Texte mischten. Sie waren aufsässig, anarchistisch, politisch, wild, laut.
Ihre Themen: Aufstand gegen das konservative Establishment, Kriegsdienstverweigerung, soziale Ausgrenzung, Apartheid. Ihre Songs hießen „Kreiswehrersatzamt Mettmann“, „Ich will nicht mehr dazugehören“, „Krieg dem Krieg“, „Kohl ist gewählt“. Anja wurde zu Stimme, Gesicht und Star der Band, eine freche Göre mit Reibeisensound, eine Lolita des Punks.
Fünf Jahre lang waren sie an nahezu jedem Wochenende auf Tour, spielten in halb Deutschland „für Spritgeld, Bier und einen Schlafplatz.“ Im Kino am Kassenberg, einem der legendären Mülheimer Szene-Orte dieser Zeit, traten sie einmal zusammen mit den Toten Hosen auf, „für fünf Mark Eintritt“. Zwischen 1981 und 1986 entstanden mit „Liberté“, „N´kululeko“ und „Cash, Invoice or Credit Card“ drei Platten, die mittlerweile erheblichen Sammlerwert haben.
Nach fünf Jahren ging Bluttat wieder auseinander
Dann war Schluss. Das Leben brachte die vierköpfige Bluttat-Gemeinschaft auseinander, Mülders ging nach Berlin und wurde Künstlerin, Mertingk zog es später nach München. Alle lernten Berufe, die wenig bis nichts mit Musik zu tun hatten, spielten aber weiterhin in Bands, die drei Männer wurden Familienväter. Doch eines wurden sie nicht: brav, bieder und angepasst. Bluttats Credo „Stay wild“ galt weiterhin. Es gilt bis heute.
Mitte 2009 fanden sich die vier zu einem Reunion-Konzert zusammen, seither spielen sie wieder ein paar Mal im Jahr zusammen - wenn es die Zeit zulässt. Nur ist die Zeit für ihre Musik in Deutschland nicht mehr die allerbeste. „Punk hat’s schwer. Wenn heute 150, 200 Leute zu einem Konzert kommen, dann ist das schon viel“, bilanziert Gitarrist Jörg Ramin. Damit würde die Geschichte über Bluttat womöglich ein wenig melancholisch ausklingen, wenn ihre Sängerin vor einigen Jahren auf einem Musikfestival in Hünxe nicht eine merkwürdige Begegnung gehabt hätte.
Sie war an jenem Abend quasi inkognito unterwegs, als sie ein Mann ansprach, ein Kolumbianer, der in Paris lebte. Ob sie tatsächlich Atti von Bluttat sei, wollte er wissen. Sie war’s. „Weißt du, dass du in Kolumbien Gott bist?“, fragte darauf der Mann. Verstörende Frage.
Und ebenso verstörend war, dass er ihr erzählte, dass in Kolumbien alle glaubten, sie und die anderen Bandmitglieder hätten sich in den 80er-Jahren umgebracht und dort als Helden gefeiert und betrauert würden. „Wir dachten, das seien ein paar Spinner“, erinnert sich der heute 55-jährige Ramin. Aber neugierig wurden sie doch, begannen zu recherchieren, durchforsteten die sozialen Medien, knüpften Kontakte: „Und dann schwante uns, dass wir da irgendwie bekannt sein müssen.“
Doch wie bekannt sie 9000 Kilometer entfernt wirklich waren, ging ihnen erst auf, als sie Ende vergangenen Jahres tatsächlich nach Kolumbien aufbrachen. Nur Jörg Ramin konnte nicht mitreisen, für seinen Part engagierte die Band den jungen Kolumbianer Sundara Mandelbaum und zusätzlich den Musikerkollegen Klaus Vanscheidt.
Was folgte, waren vier Wochen Tournee in mehreren Städten quer durchs Land, restlos ausverkaufte Clubs, ein Konzert bei einem Festival vor mehr als 9000 aufgewühlten Fans - und die pure Überwältigung. „Vier Wochen lang Gänsehaut“, so Anja Mülders.
In dem Land, das jahrzehntelang durch einen gewaltsamen Konflikt zwischen Staat und bewaffneten Rebellengruppen und dem zerstörerischen Einfluss der Drogenkartelle geprägt war, galten die Bluttat-Musiker als Helden und Mutmacher in einem Kampf für Gerechtigkeit, Solidarität und Emanzipation, seitdem Mitte der 80er zwei Schallplatten nach Medellín gelangten, auf Kassetten gezogen und dort Hunderte Male kopiert worden waren.
Dass diese Helden nun 30 Jahre älter waren, störte die Kolumbianer nicht im Geringsten. „Auch wenn wir jetzt graue Haare haben, unsere Haltung ist geblieben“, so Hans-Uwe Koch, „und das haben die Menschen gespürt. Es gibt Songs von uns, die sind dort Hymnen der Punkbewegung.“ Den Flug nach Medellín finanzierte die dortige Stadtverwaltung - wegen des Einflusses von Bluttat auf die regionale Musikszene.
Eine Einladung zum Rock al Parque-Festival
Bei solchen Erlebnissen sind sogar Hardcore-Punker wie der 57-jährige Bassist gerührt: „Wir wurden Zeugen eines Märchens und dieses Märchen war unser eigenes“.
Und die Geschichte von Bluttat in Kolumbien soll weitergehen. Für den Sommer gibt es bereits eine Einladung zum Rock al Parque-Festival in Bogotá, einem der größten Musikfestivals Lateinamerikas. „Wir reden hier von 70 000 Leuten als Publikum“, sagt Hans-Uwe Koch.
Womöglich hat dieses Märchen für Bluttat gerade erst begonnen.