Essen. Patienten und Angehörige werden ruppiger: Mediziner beklagen Anfeindungen und Übergriffe. Umfragen aus NRW sind alarmierend.

Sie sind da, um kranken Menschen zu helfen - doch im Job werden sie von Patienten und Angehörigen beschimpft und sogar angegriffen: Niedergelassene Ärztinnen und Ärzte beklagen einen zunehmend ruppigen Ton, Übergriffe und Gewalt in ihren Praxen.

„Wir können Gewalt in den Praxen als Gesellschaft nicht länger tolerieren“, mahnt Dirk Spelmeyer, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe, eindringlich gegenüber dieser Redaktion. Die allermeisten Patientinnen und Patienten schätzten die Arbeit der Praxen, doch einigen wenigen fehle der nötige Respekt. „Der Ton ist in der Tat aggressiver geworden.“ Gerade die Medizinischen Fachangestellten, früher Arzthelfer, würden bisweilen beleidigt und beschimpft. Das sei nicht hinnehmbar, so Spelmeyer.

Brenzlige Situationen bei Hausbesuchen

Ähnlich äußerte sich der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, am Dienstag. „Aggressives Verhalten, verbale Bedrohungen bis hin zu Tätlichkeiten sind ein wachsendes Problem in den Arztpraxen“, sagte Gassen der Neuen Osnabrücker Zeitung. Die Lage eskaliere immer öfter. Gassen, der in Düsseldorf praktiziert, sprach von verbaler und körperlicher Gewalt. „Ich hatte selbst schon einen Patienten, der eine Tür kaputt getreten hat.“

Die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe hat niedergelassene Ärztinnen und Ärzte erst kürzlich zu Gewalterfahrung befragt. Über ein Drittel hat bei Hausbesuchen im Rahmen des ärztlichen Bereitschaftsdienstes bereits brenzlige oder gefährliche Situationen erlebt. Auch in einigen Notfalldienst-Praxen habe das Aggressionspotenzial zugenommen. Um die Sicherheit der Ärztinnen und Ärzte zu gewährleisten, hat man sogar umgebaut. Die KV vertritt die Interessen der rund 15.000 niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte in Westfalen-Lippe, darunter etwa in Bochum oder Dortmund.

Dr. Dirk Spelmeyer, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe.

„Der Ton ist in der Tat aggressiver geworden.“

Dirk Spelmeyer
Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe

Arztpraxen stehen mit dem Problem nicht allein da. Immer lauter werden die Rufe aus Notaufnahmen und der Rettungskräfte, dass auch sie zunehmend von Anfeindungen betroffen sind. Das Landeskriminalamt hat 2022 allein in den rund 340 NRW-Kliniken über 1500 sogenannte Rohheitsdelikte wie Drohungen oder Nötigungen gezählt - 29 Prozent mehr als im Vor-Coronajahr 2019. Umfragen bestätigen den Trend: In einer repräsentativen, bundesweiten Umfrage des Deutschen Krankenhausinstituts vom Frühjahr gaben fast drei Viertel der Krankenhäuser an, dass die Zahl der Übergriffe durch Patienten oder Angehörige in den vergangenen fünf Jahren gestiegen sei.

NRW-Umfrage unter Ärztinnen und Ärzte: Viele haben Gewalt im Job erlebt

Für NRW legte die Ärztekammer Westfalen-Lippe im Mai eine eigene Umfrage unter rund 42.500 Ärztinnen und Ärzten aus Kliniken und Praxen vor. Innerhalb von wenigen Tagen seien über 4500 Antworten eingegangen. Knapp zwei Drittel der Befragten sagten, dass sie in ihrem Berufsalltag bereits Gewalt erlebt haben. Mehrheitlich ging es um Beschimpfungen, Drohungen und Anfeindungen, aber auch um körperliche Gewalt. Kliniken und Praxen sind gleichermaßen Tatorte gewesen. Aggressionen gingen etwas häufiger von Patientinnen und Patienten aus als von den Angehörigen.

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Betroffene nennen als einen Grund für Aggressionen mangelnden Respekt. Ein Arzt aus einer Notaufnahme sprach gegenüber dieser Redaktion unlängst von Patientinnen und Patienten mit einer „Vollkasko-Mentalität“, nach der das eigene Problem sofort gelöst werden müsse. Die gesellschaftliche Grundstimmung sei eh schon angespannt - auch Wartezeiten ließen eine Situation schneller eskalieren. Die steigen seit Jahren, weil inzwischen Menschen mit einer Vielzahl von Problemen in die Ambulanzen drängen.

Erste Krankenhäuser in NRW haben reagiert, um insbesondere die Notaufnahmen besonders zu schützen. Sie schulen ihr Personal in Deeskalation, statten Diensttelefone mit Notrufknöpfen aus, nutzen Videobeobachtung oder Sicherheitsdienste - und wünschen sich vielerorts eine Strafverschärfung.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) schrieb am Dienstag auf dem Portal X, dass Gewalt und Gewaltandrohungen gegen Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte stärker bestraft werden müssten. „Uns droht so schon ein ganz massiver Arztmangel, Praxen können nicht wieder besetzt werden.“ Man arbeite an einem Gesetz zur Strafverschärfung.