Ruhrgebiet. Schwere körperliche Arbeit galt als Hauptrisikofaktor. Heute weiß man mehr. Selbst für Menschen mit chronischen Beschwerden gibt es Hoffnung.

Es gibt niemanden, der verschont bleibt: Wenigstens einmal im Leben, erklären Experten, hat jeder Mensch „Rücken“. Schmerzen im Bereich zwischen Lenden- und Brustwirbel sind zur Volkskrankheit geworden. Fast 100 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage gingen laut AOK-Statistik 2022 auf Rückenschmerzen zurück, die „Produktions-Ausfallkosten“ summierten sich auf 12,4 Milliarden Euro. „Wahnsinn“, sagt Prof. Tobias Schulte, Direktor der Orthopädischen Universitätsklinik am Bochumer St. Josef-Hospital und Leiter des Skoliose-Zentrums Ruhr. Viel zu wenige Menschen wüssten, wie sich vorbeugen lässt.

Jeder Dritte in Deutschland leidet regelmäßig an Rückenschmerzen, über 26 Millionen Menschen. Aber es gibt große regionale Unterschiede. Wie sieht es im Ruhrgebiet aus?

Prof. Tobias Schulte: Unterschiede gibt es tatsächlich nicht nur zwischen einzelnen Bundesländern, sondern auch zwischen Städten. In NRW liegt die Prävalenz (Anteil der Erkrankungen an der Gesamtbevölkerung) mit 33,1 Prozent über dem Bundesschnitt von 31,4 -- und in Bottrop bei 39,5, in Münster aber bei nur 24,3. Wie viele Menschen Rückenschmerzen bekommen, hat auch damit zu tun, ob sie in einer wohlhabenden Akademikerstadt oder in einer materiell wie sozial benachteiligten Arbeiterregion leben.

Das heißt: körperliche Arbeit ist der entscheidende Risikofaktor?

Das dachte man lange, ja. Aber das stimmt so nicht mehr, das wissen wir unter anderem aus Zwillingsstudien. Genetische Einflüsse sind wesentlich. Für Verschleiß spielen neben körperlicher Überlastung und Statikproblemen der Wirbelsäule Dinge wie Alter, Übergewicht, Rauchen, hohe Blutfettwerte, schlecht eingestellter Diabetes und mangelnde Bewegung eine Rolle. Ob ein solcher Verschleiß dann auch zu Rückenschmerzen führt, steht aber auf einem anderen Blatt. Das wirken auch Faktoren wie Unzufriedenheit am Arbeitsplatz, Stress, Depressionen, Ängstlichkeit oder Überforderung mit, es gibt sogar „Lerneffekte“ aus dem unmittelbaren Umfeld.

Prof. Tobias Schulte: Der Unfallchirurg und Orthopäde leitet die Orthopädische Uni-Klinik am Bochumer St. Josef Hospital und das Skoliose-Zentrum Ruhr.
Prof. Tobias Schulte: Der Unfallchirurg und Orthopäde leitet die Orthopädische Uni-Klinik am Bochumer St. Josef Hospital und das Skoliose-Zentrum Ruhr. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Was unterscheidet spezifische und unspezifische Rückenschmerzen?

Für den weitaus größten Teil der Rückenschmerzen lässt sich zunächst keine eindeutige Ursache ausmachen, das nennen wir unspezifisch. Für andere gibt es Erklärungen: Verschleiß-Erscheinungen wie Bandscheibenvorfall - oder abnutzung, Spinalkanalstenose oder Arthrose der Wirbelgelenke etwa. Auch Osteoporose, Unfälle, Deformitäten (Verkrümmungen der Wirbelsäule) oder entzündliche sowie Tumorerkrankungen können Rückenschmerz auslösen.

Wie kann man vorbeugen?

Bewegung und Sport helfen, Verschleiß bedingtem Rückenschmerz vorzubeugen. Übergewicht sollte abgebaut, Rauchen aufgegeben werden. Zu hohe Blutfettwerte und Zucker müssen behandelt, Überlastung – körperliche wie psychische – vermieden werden. Eine positive, zufriedene Lebenseinstellung schützt definitiv.

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Leichter gesagt als getan....

Natürlich. Die meisten Menschen würden, wenn man sie fragt, sagen: Sport ist gut, Rauchen ist schlecht. Dennoch lassen sie häufig das eine und tun das andere. Ich denke, zu viele wissen gar nicht, wie wichtig Bewegung und gesunde Lebensweise sind. Die Weltgesundheitsbehörde empfiehlt pro Woche mindestens 150 Minuten mäßige oder 75 Minuten intensive Bewegung. Kinder sollten eine Stunde täglich aktiv sein. Aber diese Ziele erreichen längst nicht alle. In unseren Sprechstunden sehen wir, dass viele Kinder überhaupt keinen Sport machen.

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Ruhe oder Bewegung, Wärme oder Kälte, Tabletten – was hilft bei akutem Rückenschmerz?

Probieren Sie es aus! Ich rate: kurz entlasten, dann möglichst schnell zurück in die Bewegung, in einen strukturierten Alltag. Egal, ob Sie Kaugummi am Kiosk verkaufen oder Hochschulprofessorin sind. Im Kopf darf sich nicht alles nur um den Schmerz drehen. Gegebenenfalls helfen im Akutfall auch Medikamente wie Ibuprofen oder Diclofenac und – sehr effektiv – Infiltrationen (Spritzen) mit Cortison und lokalen Anästhetika. Physiotherapie und physikalische Behandlungen gehören ebenfalls zu den Therapie-Optionen. Wenn es um die Vermeidung eines sogenannten Schmerzgedächtnisses, also einer Chronifizierung, geht, ist die Mitbehandlung von psychologischen und sozialen Problemen wesentlich, deshalb gehören immer auch Psychologen zum Team.

Und wenn der Schmerz doch chronisch geworden ist – gibt es dann noch Optionen?

Jede Menge sogar! Aber dafür muss sich ein Arzt viel Zeit nehmen, den Patienten gründlich untersuchen, ausführlich mit ihm reden, Ziele definieren. Tut er das, gibt es reichlich Möglichkeiten: ambulante und stationäre konservative Schmerzbehandlungen, minimalinvasive Verfahren, etwa das Veröden von Nervengeflechten, und „Reparatur-Operationen“ (Dekompressionen oder Instrumentationen/Versteifungen) sowie Neuromodulation. 

Neuromodulation?

Dahinter verbergen sich teils noch relativ unbekannte Techniken, die gerade Menschen helfen können, die zu alt oder zu krank für eine klassische Operation sind – oder sie nicht wollen. Wir implantieren dafür Elektroden ans Rückenmark oder an Nerven und Muskeln in Wirbelsäulennähe. Diese erzeugen ein Stromfeld, das von außen steuerbar ist – so kann man den Schmerz dämpfen. Eine andere Form der Neuromodulation kann zudem die tiefen Rückenmuskeln trainieren, was die Stabilität des Rückens deutlich optimiert.

Stichwort Rücken-OP: Warum wird mancherorts sehr viel und anderenorts deutlicher weniger operiert? Laut „Faktencheck Gesundheit“ lag beispielsweise 2014/15 die Zahl der Bandscheiben-Eingriffe in Cottbus bei 86,7 je 100.000 Einwohner und im Kreis Herzfeld-Rotenburg bei 566,6....

Es werden überhaupt nur weniger als ein Prozent aller Menschen mit Rückenproblemen operiert! Dann aber vermehrt da, wo es spezialisierte Kliniken gibt. Skoliosen etwa bei uns, wir sind Skoliose-Zentrum. Das ist von der Gesundheitspolitik bewusst so gewollt. Ob der wirtschaftliche Druck auf Krankenhäuser die Unterschiede mit bedingt, wird seit Jahren ebenfalls diskutiert. Ein OP-Saal, der leer steht, ist für viele Kliniken eine Katastrophe.

„Ich setze darauf, dass Menschen anderen helfen wollen.“

Prof. Tobias Schulte
über die neue Online-Plattform „www.mein-ruecken-und-ich.de“

Vor kurzem ging Ihre Online-Umfrage-Plattform „www.mein-ruecken-und-ich.de“ an den Start. Was verbirgt sich dahinter?

Es handelt sich um ein langfristig angelegtes Non-Profit-Projekt mit dem Ziel, die wissenschaftliche Forschung zum Thema Rücken voranzubringen. Denn nicht nur Laborstudien, auch Umfragen in der Bevölkerung zum Krankheitsverständnis, zu Erlebenswirklichkeit oder Erwartung etwa sind wichtig, wenn es um die Versorgung von Patienten geht. In einem ersten Schritt wollen wir möglichst viele Menschen dazu bringen, sich auf der Plattform zu registrieren und einen Stammdatenbogen auszufüllen. Das dauert keine zehn Minuten.

Möglichst viele Menschen, auch Gesunde?

Ja, jeder über 18 Jahren, kann sich registrieren. Nicht nur Menschen mit Rückenschmerzen.

Was passiert nach der Registrierung?

Mit der Registrierung erklärt man seine grundsätzliche Bereitschaft, in den kommenden Monaten und Jahren von Zeit zu Zeit zu geschützten Umfragen eingeladen zu werden. Wir wählen dann jeweils aus allen Panelisten diejenigen aus, um die es uns bei einer konkreten Fragestellung geht. Auf Basis der Stammdaten-Fragebögen können wir entsprechende Subgruppen definieren – und bei entsprechender Beteiligung so Studien mit überdurchschnittlich großen Teilnehmerzahlen und damit großer Aussagekraft durchführen.

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Worum soll es in der ersten Studie gehen?

Wenn sich rund 1000 Menschen registriert haben, starten wir. Mit einer Studie zu den Risikofaktoren für eine Chronifizierung von Rückenschmerzen.

Was nutzt die Registrierung dem, der sich registriert?

Er erhält Zugang zu tiefer gehenden Informationen. Aber vor allem: kann er durch seine Teilnahme persönlich zum wissenschaftlichen Fortschritt beitragen. Ich setze darauf, dass Menschen anderen helfen wollen.

>>> Info und Registrierung: www.mein-ruecken-und-ich.de