Siegen-Wittgenstein. Anklage wegen schweren sexuellen Missbrauchs ist aber noch nicht sicher. Die Hintergründe zu diesem besonderen Fall
Ein elfjähriges Mädchen aus dem Kreis Siegen-Wittgenstein hat ein Kind zur Welt gebracht. Das stellt die Familie des Mädchens, aber auch das Jugendamt des Kreises Siegen-Wittgenstein und die Staatsanwaltschaft Siegen vor erhebliche Probleme. Der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft, Patrick Baron von Grotthus, bestätigt: „Es gibt ein Ermittlungsverfahren“.
Ob es aber auch zu einer Anklage kommt, ist noch unklar: Zwar konnte der biologische Vater des Kindes ermittelt werden, aber es ist unklar, wie das Kind gezeugt worden ist. Davon hängt das mögliche Strafverfahren maßgeblich ab.
Der Sprecher des Kreises Siegen-Wittgenstein, Torsten Manges, bestätigt den Fall ebenfalls: „Das Kreisjugendamt hat das Sorgerecht für das elfjährige Mädchen und das Neugeborene übernommen. Das Baby ist mittlerweile in einer Pflegefamilie untergebracht, die elfjährige Mutter wird psychologisch in einer Einrichtung betreut.“
„Die Staatsanwaltschaft wird sich zu diesem Verfahren nicht im Detail äußern, weil wir die Persönlichkeitsrechte des Mädchens und der Familie zu schützen haben.“
Wer hilft minderjährigen Eltern?
Im Kreis Siegen-Wittgenstein liegt die Zuständigkeit für junge Menschen sowie deren Eltern, die aufgrund belastender Lebenssituationen eine Unterstützung benötigen, bei den Regionalen Sozialdiensten (RSD). Das erläutert der Kreis Siegen-Wittgenstein auf Anfrage. Die Fachkräfte unterstützen Kinder, Jugendliche und Eltern sowie weitere Erziehungsberechtigte bei der Überwindung herausfordernder und belastender Lebenssituationen.
Gemeinsam werden Lösungsstrategien, die für die Bewältigung der individuellen Schwierigkeiten erarbeitet. Dabei können alle Hilfen zur Erziehung in Betracht kommen, um junge Menschen bei der Bewältigung des Lebensalltags zu unterstützen. Ergänzend zu pädagogischen Leistungen erhalten die jungen Menschen im Bedarfsfall eine therapeutische Unterstützung, die je nach Bedarf entweder ambulant oder stationär erfolgt.
Gibt es im Hinblick auf die Sicherung des Kindeswohls eines jungen Menschen keine Einigung zwischen Eltern und Jugendamt, wird in der Regel durch das Jugendamt ein Antrag beim zuständigen Familiengericht gestellt und ein Verfahren auf Entziehung des Sorgerechts angeregt. Das Jugendamt ist verfahrensbeteiligt, das Familiengericht entscheidet nach der Einholung eines Gutachtens über den vollständigen oder teilweisen Entzug des Sorgerechtes und damit verbunden die Übertragung auf einen Vormund eigenständig.
Die Regionalen Sozialdienste arbeiten grundsätzlich eng mit allen Kooperationspartnerinnen und -partnern zusammen, die einen Beitrag zur Sicherung des Kindeswohls leisten können (KiTas, Schulen, Therapeutische Einrichtungen etc.).
Was zu dem aktuellen Fall bekannt ist, hat die Redaktion bei Ermittlungsbehörden, im Umfeld der Familie und Schule recherchiert. Allerdings verweisen die Behörden auf den Opferschutz: „Die Staatsanwaltschaft wird sich zu diesem Verfahren nicht im Detail äußern, weil wir die Persönlichkeitsrechte des Mädchens und der Familie zu schützen haben“, machte der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Siegen deutlich. Auch das Jugendamt des Kreises verweist auf die „besonders schutzbedürftigen Interessen von Kindern und Jugendlichen“ und bleibt zurückhaltend. Die Familie ließ über ihre Anwältin ausrichten, dass man sich derzeit zu dem Fall öffentlich nicht äußern möchte.
Unsere Recherchen im Umfeld von Schule und Familie ergeben dennoch ein Bild: Das Mädchen hat bereits in der Schule über eine ungewöhnliche Gewichtszunahme und auch Bauschmerzen geklagt. Außerdem wurde gegenüber unserer Redaktion von einer Wesensveränderung des Mädchens berichtet. Demnach soll sich das ansonsten aufgeweckte Mädchen immer weiter zurückgezogen haben. Lehrer und Schulleitung wurden aufmerksam und informierten das Jugendamt. Als sich der Verdacht einer Schwangerschaft bestätigte, war diese aber weit fortgeschritten.
Das Jugendamt reagierte. Das Mädchen wurde aus seiner Familie genommen und in eine Einrichtung gebracht, weil ein Missbrauchsverdacht im Raum steht.
Weil die Elfjährige lange Zeit nach den Recherchen dieser Redaktion keine Aussagen gemacht hatte, wurde von der Staatsanwaltschaft ein Speicheltest veranlasst. Der sollte nach der Geburt des Kindes über einen DNA-Abgleich einerseits den Vater ermitteln und andererseits potenzielle Tatverdächtige ausschließen können. Inzwischen liegt nach Informationen der Redaktion auch das Ergebnis vor: Der Stiefvater der Elfjährigen ist der biologische Vater des Kindes.
Auch interessant
Juristisches Problem
Dass es zu einer Anklage wegen eines besonders schweren Falls des Kindesmissbrauchs kommt, ist aktuell aber fraglich: Das liegt an der Aussagen der minderjährigen Mutter. Die soll erklärt haben, dass sie sich in ihren Stiefvater verliebt und sich ein Kind von diesem gewünscht habe. Zum Geschlechtsverkehr sei es aber nie gekommen. Nach eigenen Aussagen soll die Elfjährige ein benutztes Kondom ihrer Eltern genommen haben, um sich damit zu schwängern. So unwahrscheinlich eine solche Darstellung auch klingt: Die Ermittlungsbehörden können diese Aussage ohne weitere Zeugen weder belegen noch entkräften, da eine theoretische Möglichkeit besteht, auf diesem Wege schwanger geworden zu sein.
Das sagt ein Gynäkologe
Wie groß ist diese? Dr. Norbert Peters, Ärztlicher Direktor der Arnsberger Standorte des Klinikums Hochsauerland, sagt auf Anfrage: „Technisch möglich ist eine solche Befruchtung. Und sie ist auch nicht völlig unwahrscheinlich.“ Der Mediziner, der zudem Chefarzt der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe ist, führt zudem aus: Spermien könnten, „wenn sie nicht austrocknen, außerhalb des Körpers Minuten bis hin zu Stunden überleben“. Erstaunlich sei, „dass die Samenflüssigkeit einem Kondom entnommen worden sein soll. Kondome sind häufig mit einem Spermizid beschichtet. Diese Schicht zerstört oder hemmt die Wirkung von Spermien.“ Das Alter des Kindes sei „sehr ungewöhnlich“ in diesem Fall, sagt Peters: „Der erste Eisprung erfolgt für gewöhnlich erst mit 12, 13 oder 14 Jahren.“
Aber zurück zu den Ermittlungen in diesem Fall. Die juristische Lage könnte sich für die Ermittler nur durch zwei Dinge verändern: Durch wissenschaftlich fundierte Gutachten, die die Möglichkeit der Schwangerschaft auf diesem Wege verwirft. Und natürlich, falls die Elfjährige eine neue, veränderte, beziehungsweise belastende Aussage macht.
Die Familie ließ über ihre Anwältin ausrichten, dass man sich derzeit zu dem Fall öffentlich nicht äußern möchte.
Außergewöhnlicher Fall
Der Fall dieses Mädchens ist auch deshalb so außergewöhnlich, weil die Elfjährige die bislang jüngste registrierte Mutter in Deutschland sein dürfte. Bisher hatte eine bei der Geburt ihres Kindes Zwölfjährige aus Hamburg diesen tragischen Rekord gehalten. Generell sind minderjährige Mütter, noch dazu unter 13 Jahren, äußerst selten. Im Jahr 2022 wurden in Deutschland durchschnittlich sechs Kinder je 1000 weibliche Teenager zwischen 15 und 19 Jahren geboren. Im Jahr 2000 waren es mit 13 Fällen noch deutlich mehr, wie das Statistische Bundesamt mitteilt.