Hamm. 1908 starben durch eine Schlagwetter-Explosion auf der Hammer Zeche Radbod 350 Kumpel. Nur wenige überlebten.

„Der Anblick war grauenhaft. Ein Flammenmeer, darin Kameraden, die vor Schmerz brüllten. Die Kleider brannten, und fast irrsinnig vor Pein rannten die Männer dann erst recht in die Flammen“, wird der Steinhauer Alois Pinkawa aus Hövel, heute ein Stadtteil von Hamm, in Zeitungsberichten zitiert. Er war einer der wenigen Überlebenden der Schlagwetter-Explosion vom 12. November 1908, bei der auf der Zeche Radbod 350 Bergleute ums Leben kamen. Bis heute gilt die Katastrophe von Radbod als eines der schwersten Grubenunglücke der deutschen Bergbau-Geschichte, die 110 Jahre später auf Prosper Haniel in Bottrop enden sollte.

Der Hergang des Unglücks ist rasch ermittelt: Um 4.20 Uhr ereignet sich auf der dritten Sohle in 850 Metern Tiefe eine schwere Schlagwetter- und Kohlenstaub-Explosion. Das Feuer verbreitet sich rasant über die dritte und zweite Sohle. Da aus dem Haupt- und dem Nebenschacht dicke Rauchwolken aufsteigen, weiß man auch in der nahe gelegenen Arbeiterkolonie, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. „Der Zechenplatz füllte sich schnell mit jammernden Angehörigen der eingefahrenen Belegschaft“, schreibt die ehemalige, langjährige Hammer Stadtarchivarin Ute Knopp in einer umfassenden Dokumentation über das Unglück für den Westfälischen Anzeiger.

Inferno unter Tage – Verzweiflung auf dem Zechenplatz

In der Stunde zuvor durchleben die Männer unter Tage ein unvorstellbares Inferno. „Da spürten wir plötzlich einen gewaltigen Schlag, der uns allesamt zu Boden warf und die Lampen, die wir aufgehängt hatten, zertrümmerte. Ein furchtbares Dröhnen folgte, für Sekunden waren wir betäubt. Erst das Brechen, Splittern, Krachen und das Aufschlagen schwerer Gegenstände holte uns ins Bewusstsein zurück. Um uns dunkle Nacht. Nur immerfort das Krachen, als ob Feuerwerkskörper explodierten“, erzählt Pinkawa. Im Stockfinstern tasten sich er und seine Kollegen an der Wasserleitung entlang zur dritten Sohle, finden dort die ersten Schwerverletzten und bringen sie zum Förderkorb. Inzwischen bewegen sich immer mehr Angehörige, Frauen und Kinder zum Zechenplatz. „Dort spielten sich herzzerreißende Szenen beim Wiedererkennen der Verbrannten und Toten ab“, so Ute Knopp in ihrer Dokumentation.

Unterdessen bemühen sich Hammer Ärzte in der Kaue und der Lampenbude von Radbod um die Bergleute, die schwere Verbrennungen und andere lebensgefährliche Verletzungen erlitten haben. Permanent bringen Krankenwagen transportfähige Kumpel in zwei Hammer Krankenhäuser.

Unter Tage gestalten sich die Rettungsarbeiten sehr schwierig. Zunächst muss der Förderschacht notdürftig repariert werden. Die Grubenwehren von Radbod und der Nachbarzechen Werne und de Wendel, die zur Hilfe eilen, haben Atemschutzgeräte, die nur 30 bis 60 Minuten eingesetzt werden können. Gegen sieben Uhr beginnen sie mit der Bergung weiterer Verletzter und Toter. Wegen der großen Hitze und giftiger Schwaden kommen die Trupps aber nur langsam voran und müssen häufig abgelöst werden. Auch die später eintreffenden Rettungsmannschaften aus Oberhausen, Gelsenkirchen, Herne, Werne und andere können nicht viel ausrichten. „Alle kamen fast besinnungslos wieder zu Tage und erklärten, eine Rettung der Bergleute, die noch in der Grube seien, wäre unmöglich“, schreibt Ute Knopp und zitiert ein Mitglied der Hammer Rettungsmannschaft: „Hier ist alle menschliche Hilfe umsonst“.

Gegen 17.45 Uhr am gleichen Tag werden die Rettungsarbeiten eingestellt. Später teilt die Bergbehörde mit, dass zur Zeit des Unglücks 384 Kumpel unter Tage waren. Nur 17 blieben unverletzt. Von den 30 Verletzten starben später weitere 13, 36 konnten nur tot geborgen werden. Insgesamt fanden 350 Männer den Tod, fast die gesamte Mannschaft der Nachtschicht.

Mehr als 300 Frauen mit 800 Kindern verloren ihre Ehemänner, Väter und Söhne. In fast allen Familien in Hövel und in der Hammer Nordenfeldmark herrschten Trauer und Verzweiflung. Viele waren erst wenige Jahre zuvor ins Revier gekommen – in der Hoffnung auf ein besseres Leben mit sicherem Einkommen.

Viele Leichen wurden erst später geborgen

Die Katastrophe auf Radbod sorgte nicht nur im damaligen Deutschen Reich und in Europa für große Betroffenheit. Sogar die New York Times ging am 13. November 1908 auf das Unglück ein. Aus der ganzen Welt trafen Beileidstelegramme und Spendengelder ein. Kaiser Wilhelm II. entsandte seinen Sohn Prinz Eitel Friedrich, der danach an den Sitzungen der verschiedenen Behörden und der Königlichen Regierungen Arnsberg und Münster teilnahm. Mit dem Ergebnis, dass die Schächte abgedämmt und die Zeche unter Wasser gesetzt werden sollte, um die Brände zu löschen, womit am 17. November 1908 begonnen wurde. „Die Leichen der Verunglückten blieben unter Tage“, resümiert Ute Knopp. 287 tote Bergleute konnten erst viel später, von September 1909 bis Dezember 1910, geborgen werden. 14 Kumpel wurden nie gefunden. Knapp drei Wochen nach der Flutung wurde mit dem Leerpumpen begonnen, im Februar 1909 starteten die Aufräumarbeiten. Ab September 1909 wurde dann auf Radbod wieder Kohle gefördert.

Eine Kreuz erinnert  in Hamm an die am 12. November 1908 verunglückten Bergleute der Zeche Radbod.
Eine Kreuz erinnert in Hamm an die am 12. November 1908 verunglückten Bergleute der Zeche Radbod. © picture-alliance/ dpa | Bernd Thissen

Am 16. November 1908, einem sonnigen Montag, werden die 36 geborgenen Toten in einem 64 Quadratmeter großen, mit schwarzem Tuch ausgeschlagenen Massengrab auf der westlichen Seite des Höveler Friedhofs beigesetzt – unter großer Anteilnahme der Bevölkerung, mit zahlreichen Knappenvereinen aus dem Ruhrgebiet, zehn Musikkapellen und vielen Persönlichkeiten aus Politik, Bergbau und Gewerkschaften. „Es war herzzerreißend, den Jammer und das Wehklagen der so hart geprüften Hinterbliebenen der Opfer mit anhören zu müssen“, berichtet der Westfälische Anzeiger. Am Tag zuvor konnten die Menschen im Maschinenhaus an den offenen Särgen der Toten von Radbod Abschied nehmen. Der Andrang war so groß, dass später nur noch Angehörige hinein durften.

Schon am Tag nach dem Unglück rücken die Arbeitsbedingungen auf Radbod in den Fokus. Freitagabends demonstrieren Kumpel auf dem Zechenplatz und verlangen besseren Arbeitsschutz. Eine Delegation will Prinz Eitel Friedrich sprechen, der sofort bereit ist. Er verspricht, sich beim Kaiser dafür einzusetzen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern, um Unfälle zu reduzieren. Heftige Vorwürfe und Schuldzuweisungen an die Adresse der Zechenverwaltung, des Oberbergamts und des Bergwerksministeriums wurden schon am 18. November 1908 bei Bergarbeiter-Versammlungen in allen großen Bergbaustädten des Reviers laut. „Die heute von über 7000 Personen besuchte Bergarbeiter-Versammlung protestiert entschieden gegen den schon wieder von der Bergbehörde unternommenen Versuch, bevor auch nur die eigentliche Untersuchung der Unglücksursachen beginnen konnte, die Zechenbesitzer, Betriebsleiter und Bergbehörde von jeder Schuld reinzuwaschen. Die Versammlung erblickt darin eine Beschimpfung der toten Kameraden im Schacht Radbod“, zitiert Archivarin Ute Knopp die Resolution, die am Ende der Versammlung im Bochumer Schützenhof verabschiedet wurde.

Seit 1909 nur noch elektrische Grubenlampen

Juristisch hatte die Explosion kein Nachspiel für die Verantwortlichen von Radbod. Eine Kommission, die über 300 Personen vernommen hatte und mehrmals in der Grube war, kam zu dem Ergebnis, dass es sich um eine reine Schlagwetter-Explosion gehandelt habe, wahrscheinlich ausgelöst durch die Lampe eines Arbeiters. 44 Beamte, Schieß- und Rieselmeister, gegen die ermittelt worden war, wurden von der Strafkammer Münster am 23. Mai 1911 „außer Verfolgung gesetzt“. Gegen bergpolizeiliche Vorschriften sei nicht verstoßen worden. Es gebe keinen Beweis für die Schuld einer Person, befanden die Richter.

Immerhin wurden nach der Radbod-Katastrophe zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um die Arbeit unter Tage sicherer zu machen. Die Kontrollen wurden verstärkt, es durfte nur bei elektrischem Licht gearbeitet werden. Um Schlagwetter-Explosionen zu verhindern, für die ein Funke ausreicht, wenn sich austretendes Grubengas (Methan) mit Luft vermischt und einen Anteil von fünf bis 15 Prozent erreicht, wurden ab 1909 die Handlampen der Kumpel nur noch elektrisch betrieben.

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