Viele Berufstätige nehmen Belastungen und Sorgen aus dem Job mit nach Hause und kommen nicht zur Ruhe. Experten empfehlen Bewegung und Rituale, um besser abzuschalten.
Irgendwann graute es Sara Mey (Name geändert) vor der Nacht. Vor jener Zeit, die eigentlich die erholsamste ist. „Ich konnte immer gut schlafen und war meistens am Abend so geschafft, dass mir die Augen zufielen, sobald ich im Bett lag.“ Doch dann wurde alles anders. Sie ging ins Bett, las ein paar Seiten, machte das Licht aus – und blieb wach. „Das war eine schreckliche Zeit. Ich hatte bald Angst davor, schlafen zu gehen.“ Schlief sie doch ein, wachte sie in der Nacht mehrfach auf. „Ich war gerädert und konnte mich kaum noch auf das Unternehmen konzentrieren, das ich erst kurz zuvor gegründet hatte.“
Mey ist kein Einzelfall. Viele Menschen nehmen ihre Probleme von der Arbeit mit nach Hause – und mit ins Bett. „Durch die ständige Erreichbarkeit und Reizüberflutung verstärken sich die stressbedingten Schlafstörungen“, sagt Diplom-Psychologin Felicitas von Elverfeldt. Vielen Beschäftigten fehle ein Gegengewicht zur Arbeit und Zeit, sich nach Feierabend emotional vom Job zu distanzieren.
Jeder vierte Erwachsene leidet unter Schlafstörungen, wie eine Untersuchung des Robert-Koch-Instituts ergeben hat. Fast jede dritte Frau (30,8 Prozent) und mehr als jeder fünfte Mann (22,3 Prozent) berichtet dabei von Schlafstörungen mindestens dreimal pro Woche. Auch der Stressreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) macht die Schlafstörungen als großes Problem unter Arbeitnehmern aus.
Egal, ob man fünf, sieben oder neun Stunden Ruhe braucht: „Erholsames Schlafen ist Grundvoraussetzung für Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden“, sagt Schlafforscher Jürgen Zulley. „Man kann viele Belastungen ertragen, wenn man zwischendurch wieder zur Ruhe kommt.“ Doch genau das ist offenbar das Problem für viele Menschen, die den Stress von der Arbeit mitbringen. „Die Gedanken, die wir als problematisch erleben, schieben sich immer wieder nach vorne“, sagt er.
Sich auf Ruhe konzentrieren
Doch Erholung und Muße stellen sich nicht von allein ein. „Es klingt paradox, doch man muss sich auf etwas konzentrieren, um zur Ruhe zu kommen“, erklärt Zulley. BAuA-Mitarbeiter Martin Schulte rät zu etwas Gegenläufigem zur Arbeit. „Wer vor allem psychisch im Job gefordert ist, wird sich mit Bewegung besser distanzieren und erholen können als vor dem Fernseher.“ Er rät zu ruhigen, meditativen Tätigkeiten vor dem Schlafen. Das kann Musik sein, die Konzentration auf die eigene Atmung oder eine schöne Fantasiegeschichte.
„Durch die monotone Stimulation hat das Gedächtnis keine Zeit, den problematischen Gedanken nachzuhängen, und entspannt“, erklärt Martin Schulte. Auch könne es helfen, die Benutzung von Smartphone und Computer ab 20 Uhr einzustellen und nach dieser Uhrzeit auch keine Konfliktgespräche mit Partner oder Kindern mehr zu führen. „Das muss man mit der Familie absprechen“, sagt Zulley.
Wer mit Auspowern oder ruhigen Ritualen schließlich in den Schlaf findet, hat die Nacht aber noch lange nicht überstanden. „Ich bin oft jede Stunde aufgewacht und habe verzweifelt darauf gewartet, wieder einschlafen zu können“, sagt Sara Mey. Ein aussichtsloses Unterfangen. So setzen sich viele erst richtig unter Druck, erklärt Psychologin von Elverfeldt. Auch hier empfiehlt sie positive und beruhigende Rituale sowie die Erinnerung an Erfolge und Schönes.
Die Müdigkeit kommt von selbst
Schlafforscher Zulley versucht zudem, dem Aufwachen in der Nacht das Bedrohliche zu nehmen: „Das passiert jedem von uns in jeder Nacht. Doch die meisten kurzen Wachphasen vergessen wir sofort wieder.“ Erwachen Beschäftigte und grübeln, helfe es häufig, die Gedanken aufzuschreiben. „Dann muss ich nicht mehr daran denken“, sagt Zulley. Wer in einer solchen Situation jedoch zu aufgewühlt und hellwach ist, sollte aufstehen und sich mit etwas Ruhigem beschäftigen: Tee kochen, Kreuzworträtsel machen, einen kurzen Gang durch die Wohnung machen. „Die Müdigkeit kommt von selbst wieder“, beruhigt Jürgen Zulley.
Sara Mey war irgendwann so erschöpft, dass sie sich aus der Apotheke pflanzliche Schlafmittel holte. „Ich wollte so etwas nie nehmen, doch ich wusste mir nicht mehr anders zu helfen“, sagt sie. „Schlafmittel sind immer die Therapie der letzten Wahl“, sagt Schlafforscher Zulley. Wenn pflanzliche Präparate bei leichten Problemen helfen, können sie allerdings ein Segen sein: „Sie haben kaum Nebenwirkungen.“ Zur Gewohnheit sollten aber auch sie nicht werden.
Unternehmerin Mey hat sich ausgiebig mit dem befasst, was Jürgen Zulley Schlafhygiene nennt. Sie war beim Arzt, um sicherzugehen, dass ihre Schlaflosigkeit nicht durch eine Krankheit verursacht ist. Sie hat sich klare Zeiten für Arbeit und Freizeit gesetzt und geht zweimal pro Woche zum Yoga. Sie macht das Handy jeden Abend um 20 Uhr aus und am Morgen um 8 Uhr wieder an. Sie liest vor dem Schlafengehen wieder – und hat etwas Neues für sich entdeckt: den Powernap, einen kurzen Mittagsschlaf.
Wie funktioniert Powernapping?
Schlafmediziner empfehlen den Powernap: Er steigert die Leistungsbereitschaft sowie körperliche und geistige Befindlichkeit. Auch das Risiko von Fehlern und Unfällen bei der Arbeit sinke deutlich, meldet aerztezeitung.de.
Während man in Japan Berufstätige selbstverständlich beim Powernapping, dem kurzen Schlafen in der Öffentlichkeit, sehen kann, wird die zehn- bis 20-minütige Pause in Deutschland nur langsam populär.
Powernappen kann man vielerorts: am Schreibtisch, im parkenden Auto, in der Bahn. Um nach der Entspannungsphase rechtzeitig wieder aufzuwachen, stellt man sich den Handywecker oder nimmt ein Schlüsselbund in die Hand: Sobald man in den Tiefschlaf fällt, lockern sich die Muskeln, und die Schlüssel fallen scheppernd zu Boden. Damit ist man selbst wieder wach – und erfrischt.