Berufsporträt Aktienanalystin Annemarie Schlüter bewertet Unternehmen und gibt für Kunden Prognosen ab, wie sich ihre Wertpapiere ändern werden
Bilanzen, volkswirtschaftliche Kennzahlen und Branchentrends sind das tägliche Handwerkszeug von Annemarie Schlüter. Ebenso gehört die Lektüre von "Handelsblatt" und "Börsen-Zeitung" zum täglichen Pflichtprogramm - noch vor Arbeitsbeginn um 8 Uhr am Adolphsplatz. Die 39-Jährige ist Aktienanalystin bei der Hamburger Sparkasse (Haspa) und verfolgt derzeit besonders gespannt die Stimmung auf den internationalen Finanzmärkten.
Außer dem Interesse an wirtschaftlichen Zusammenhängen gehört auch eine kritische Distanz zu ihrem Job. "Als Analyst muss man zahlreiche Informationen über ein Unternehmen einholen, dessen Bilanzen genau studieren, bewerten und mit den aktuellen Börsenpreisen vergleichen." Wichtig in diesem Zusammenhang sei nicht nur der Blick zurück, sondern auch der Blick nach vorn, verbunden mit der Frage, wie sich das zu analysierende Unternehmen in der Zukunft wird schlagen können.
Für die Einschätzung, ob die Aktien eines Unternehmens gekauft oder verkauft werden, sind Bewertungskennziffern ausschlaggebend wie über die Rentabilität einer Firma, die mit denen von Wettbewerbern verglichen werden. Das Ergebnis bündelt Annemarie Schlüter in einer Studie. Diese ist dann wiederum die Grundlage für die Kundenberater in den Filialen und Centern der Bank.
Annemarie Schlüter kümmert sich bei der Haspa um zehn Unternehmen aus den Bereichen Versorger und Telekommunikation. Gerade in diesen beiden Branchen gebe es außer den üblichen Einflussfaktoren - wie Marktumfeld, Branchentrends, Mitbewerber - Unwägbarkeiten, die auch eine genaueste Analyse nicht erkennen lässt. Weitere Einflussfaktoren auf ihre Tätigkeit sind politische Entscheidungen wie die Energiewende und der Ausstieg aus der Atomkraft in diesem Sommer. "So konnte niemand Fukushima und die Folgen daraus erahnen oder gar voraussehen", sagt Schlüter. Schon diese wenigen Beispiele zeigen, wie komplex die Hintergründe sind und wie eng Finanzmarkt, Firmenpolitik und Wirtschaft miteinander verknüpft sind. Deshalb ist die Pflege guter Kontakte auf Analystenkonferenzen und Investorentagen in ihrem Job besonders wichtig.
Für wirtschaftliche Themen interessierte sich Annemarie Schlüter, die in der Schule an Mathe und Deutsch besondere Freude hatte, schon früh. Sie machte nach ihrem Abitur eine Banklehre und studierte danach an der Universität Bremen Wirtschaftswissenschaften mit dem Abschluss als Diplom-Ökonomin. Ihr konkreter Berufswunsch - Aktienanalystin zu werden - entstand aus ihrem Studienschwerpunkt "Finanzanalyse und Portfoliomanagement". Später machte sie berufsbegleitend noch eine Ausbildung zur CEFA-Investment-Analystin bei der Deutschen Vereinigung für Finanzanalyse und Assetmanagement (DVFA).
Als wichtigste Eigenschaft für ihre Tätigkeit bezeichnet Annemarie Schlüter außer guten Kommunikationsfähigkeiten vor allem analytisches Denken. Auch eine Portion Rationalität sei hilfreich, denn ein Analyst müsse zwar Informationen, Entwicklungen und Stimmungen aufnehmen, dürfe sich jedoch weder von Euphorie noch von Pessimismus leiten lassen.
"Wir treffen unsere Prognosen für die kommenden zwölf Monate nach bestem Wissen und Gewissen - eigenverantwortlich und neutral - sowie nach einer gründlichen Zusammenführung aller Daten und Fakten", sagt die Bankerin. Diese Prognosen seien jedoch immer auch mit einer gewissen Unsicherheit behaftet.
Zur Finanzkrise befragt, meint Annemarie Schlüter: "Wir erleben derzeit, dass die Unternehmen überwiegend gute Zahlenwerte abliefern, aber bei ihren Ausblicken auf die kommenden Quartale Vorsicht walten lassen. An der Börse zählen nicht nur nackte Kennzahlen - es werden Erwartungen gehandelt." Die Analystin warnt davor, Ängsten zu viel Raum zu geben. Das berge die Gefahr der selbsterfüllenden Prophezeiung. All diese Faktoren muss die Finanzfachfrau einschätzen können. "Es kann sein, dass Marktteilnehmer übertreiben." Und zwar in jede Richtung, positiv wie negativ.
Ist eine Kauf- oder Verkauf-Empfehlung abgegeben, endet die Arbeit nicht. "Man muss in meinem Job immer am Ball bleiben. Für die von mir betreuten Versorger heißt das: Wie entwickeln sich die Strompreise? Werden Stromtrassen gebaut, und welchen Einfluss hat die Ölpreisentwicklung für die Unternehmen? Meine Arbeit ist unglaublich spannend, denn wir sind mit der ganzen Welt verbunden", sagt Annemarie Schlüter.
Zwar muss sie in Konferenzen ihre Ergebnisse vertreten und zuweilen Kollegen überzeugen. Dennoch sei in ihrem Job Teamgeist gefragt. "Man reibt sich und argumentiert hart in der Sache. Aber immer fair."