Hamburg. Der „Shipspotter“ kehrt nach 30  Jahren zurück nach Sachsen. Was nun aus seinem riesigen Foto- und Datenschatz wird.

Er hört es schon von Weitem. „Koreanische Deawoo-Werft“, meint Thomas Kunadt. Ohne sich umzublicken. Typisch, dieses Dröhnen der Maschinen, die hämmernde Mechanik der Motoren. In ruhiger Fahrt steuert die „MSC Madrid“ elbaufwärts Richtung Hafen. Das Containerschiff verkehrt unter liberianischer Flagge. Vorher lief es Häfen in Portugal und Großbritannien an.

Ein prüfender Blick aufs Handy zeigt: Volltreffer. Wahrscheinlich wäre der 53-Jährige ein Kandidat für die frühere Fernsehsendung „Wetten, dass ...?“. Schiffsbeobachter nennt sich seine Spezies. In anderen Ländern sagt man „Shipspotter“. Thomas Kunadt sitzt auf einer Steinmauer am Teufelsbrücker Elbufer, inhaliert die Frühlingsluft und blickt gen Blohm + Voss. Ostern ist nah.

Ein Hauch Wehmut

Und ein Hauch Wehmut ist spürbar. Weil es sich heute um ein Abschiedstreffen handelt. Nach drei Jahrzehnten in der Hansestadt zieht es den gebürtigen Sorben zurück in seine Heimat in die Oberlausitz bei Dresden. „Ich scheide aus freien Stücken“, sagt er, „aber mit einer gemischten Gefühlswelt.“

1991 kam Kunadt aus der ehemaligen DDR nach Hamburg, um Musikwissenschaften zu studieren. Als einer der international führenden Schiffsfotografen geht er jetzt. Das Vermächtnis seiner maritimen Leidenschaft kann sich sehen lassen – im wahrsten Sinn des Wortes.

Vier Festplatten mit insgesamt 16 Terrabyte Volumen

Kunadts Archiv umfasst eine auf vier Festplatten mit insgesamt 16 Terrabyte Volumen gespeicherte Dateiflut. Gut 150 Aktenordner mit alten Dias sind Beiwerk. 613.000 Schiffe aus annähernd zwei Jahrhunderten wurden von ihm er-fasst. 267.000 Bilder von 29.600 verschiedenen Schiffen hat Kunadt selbst fotografiert – die meisten auf der Elbe vor seiner Haustür in Blankenese, mit einer digitalen Spiegelreflexkamera.

Dieser Einsatz ist rekordverdächtig. Kunadt ist Weltmeister. Wenn am 30. April sein jüngerer Bruder mit einem Transporter anreist, gibt Kunadt seiner persönlichen Lebensgeschichte eine bewusste Kursänderung. Das rastlose Leben soll ein Ende haben. „Die Elbe lässt einem keine Ruhe“, sagt er. Stillstand gibt es nie. Immer kommt ein Schiff von irgendwo. Oder umgekehrt. Kunadts Leben war wie Ebbe und Flut.

Früher hörte er den Lotsenfunk ab

So richtig kann das nur verstehen, wer gleichfalls eine starke Leidenschaft in seiner Seele spürt. Wenn wieder ein großes Schiff den Strom in Höhe Blankeneser Treppenviertel passiert, fühlt sich Kunadt wie elektrisiert. Regelmäßig lässt ihm das rhythmische Wummern eines Schiffsmotors keine Nachtruhe. Nicht wegen der Geräusche, sondern wegen der Passion.

Früher eilte er über eine Leiter aufs Dach, hielt Ausschau, griff Windjacke und Kamera, rannte oder radelte los. Nach dem Umzug in die erste Reihe vor vier Jahren reichte ein Foto aus dem Dachfenster. Früher hörte er den Lotsenfunk ab und nutzte Webcams auf dem Hotel Louis C. Jacob sowie auf dem Leuchtturm Wittenbergen.

Mehr als 25 Bücher und Kalender

In der Neuzeit informierte er sich über fünf Schiffsmeldedienste im Internet. Mit seinem durch das Studium der Musikwissenschaften geschulten Ohr reicht manchmal das Gehör.

In mehr als 25 Büchern und Kalendern gab der Profi sein Wissen über die Elbe und aus fast 150 Häfen in aller Welt weiter. Er war in Rio und Shanghai, auf Hawaii und in Kyoto, in Mombasa und Tasmanien. Heimathafen: Hamburg.

Kunadt absolvierte Tourneen mit Lesungen, füllte Kinosäle wie im Abaton oder in Boizenburg, organisierte Barkassenfahrten durch Hamburgs Hafenarme. Um seine Begeisterung ebenso nachvoll-ziehen zu können wie den beschlossenen Schlussstrich, hilft ein Rückblick.

Nach dem Schulabschluss wurde Kunadt Armeeoffizier

Geboren wurde Thomas in der Lausitz bei Dresden. Seine Mutter ist Sorbin. Diese ethnische Minderheit mit eigener Sprache und Tradition lebt im Osten Sachsens. Zusammenhalt ist ein Wert, kein Fremdwort.

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Nach dem Schulabschluss, noch zu DDR-Zeiten, wurde Kunadt Armeeoffizier. Seine Einheit hatte den Auftrag, die Regierungsflugzeuge von Erich Honecker und seinen Führungsgenossen zu bewachen. Deutschlands Einheit eröffnete bis dato unbekannte Horizonte. Der Westen lockte, Hamburg, das Tor zur Welt, für den jungen Mann Inbegriff von Freiheit und Großgeist.

Der Student bezog eine Wohnung in der Kanzleistraße in Nienstedten. Zum Elbufer war es nur ein kurzer Spaziergang. Das Leben am Fluss zog ihn in seinen Bann. Und die Ozeanriesen. Dem ersten Foto folgte weitere. Immer mehr.

Seine Rückkehr hat vor allem familiäre Gründe

Von 1995 an gab es kein Halten mehr. Allerdings erlaubte der maritime Bazillus kein Innehalten. In einer nächtlichen Wachphase hat Kunadt einmal ausgerechnet, seit 1995 rund 100.000 Stunden in seine Leidenschaft investiert zu haben. 50 bis 60 Stunden pro Woche waren die Regel. Bei seinem maritimen Vermächtnis komme es keinesfalls auf die Masse an. „Der Clou ist die Ordnung“, sagt er.

Nun kommt für Kunadt aktuell eines zum anderen: die kranke Mutter, seine Geschwister, Sehnsucht nach Rückkehr an die Stätte seiner Kindheit. Was an-fangs zaghaft keimte, manifestierte sich zum Entschluss. Leinen los. Sein Archiv mit fast einer Million Datensätzen, systematisch geordnet, will Thomas Kunadt weiterhin pflegen. Mit den täglichen Schiffsfotos indes ist es vorbei.

Überlegungen für eine Hamburg-App mit Schiffsregister

Mal gucken, was aus dem Vermächtnis wird. „Es gibt interessante Perspektiven“, verrät Klaas Jarchow, seit Jahren Kunadts Mitstreiter und Verleger. Das renommierte Fraunhofer-Center für Maritime Logistik und Dienstleistungen nutzt Daten und Bilder für ein Pilotprojekt im Hamburger Hafen. Stichwort: digitale Schiffserkennung. Das künftige Deutsche Hafenmuseum bemüht sich um die einmalige Sammlung.

Eines der 267.000 Bilder von Thomas Kunadt: 2016 trafen sich die Containerfrachter „Cap San Maleas“ und die „Basel Express“ vor Blankenese.
Eines der 267.000 Bilder von Thomas Kunadt: 2016 trafen sich die Containerfrachter „Cap San Maleas“ und die „Basel Express“ vor Blankenese. © Kunadt

Außerdem existieren Überlegungen, eine Hamburg-App mit Schiffsregister und Suchfunktionen für Fotos zu schaffen. „Thomas Kunadt lag wie kaum ein anderer 24 Stunden auf der Lauer nach geeigneten Schiffen“, sagt Peter Tamm, inbrünstiger Seebär und Chef des Internationalen Maritimen Museums in der HafenCity. Kunadt kenne die besten Positionen für besondere Fotos. Tamms Museum würde die „gigantische Daten-bank des Mister Shipspotting“ gerne übernehmen.

Thomas Kunadt freut sich auf den neuen Kontrast in seinem Leben

Trotz der aufkommenden Abschiedsmelancholie freut sich Thomas Kunadt auf den neuen, selbst gewählten Kontrast in seinem Leben, auf einen Ankerplatz in ländlicher Idylle. Auf zu neuen Ufern. „Nicht nur wegen des Wassers, des Wetters und der hanseatischen Mentalität war Hamburg ein Glücksfall für mich“, bilanziert er.

„Mein Ziel ist es, das Gefühl von weiter Welt beizubehalten.“ Ein Trost bleibt: Von Thomas Kunadts Heimatort Bretnig sind es nur 25 Kilometer bis ans Elbufer.