Hamburg. Vor 150 Jahren entstand die Hafenbahn. Sie wurde so nötig gebraucht, weil Hamburg den Anschluss zu verpassen drohte.
Die Stadt hat sich in Schale geworfen: „Fahnen und Girlanden, Zylinderhüte und Gehröcke, Pickelhauben und schmetternde Musik“, so notiert ein Chronist, bilden die festliche Kulisse für ein Jahrhundertereignis, das Hamburg für immer verändern wird.
Ihre Vermählung beehren sich zwei Transportmittel anzuzeigen, die gemeinsam ein neues Zeitalter begründen wollen und werden: das für Hamburgs Handel und Wandel schon seit Jahrhunderten elementare Schiff und das erst vor ein paar Jahrzehnten auf Schienen gestellte Dampfross.
Die Heiratsurkunde wird am 18. Juni 1866, vor 150 Jahren, unterzeichnet: der Pachtvertrag über das Nutzungsrecht an einer Fläche von 700 Metern Länge für eine zweigleisige „Quaibahn“ vom Sandtorkai zum Berliner Bahnhof am Deichtorplatz.
Es ist die Zweckehe von Blind und Lahm: Der Hamburger Hafen verliert laufend Handelsverkehr, weil niemand genug Weitblick hat, ihn zukunftsfähig auszubauen. Die Berlin-Hamburger Eisenbahn-Gesellschaft wiederum kommt nicht in die Gänge, weil sie es nicht schafft, einträgliche Strecken zu erschließen.
Die einen wollen nicht, die anderen können nicht, und die Geschäfte kommen nicht voran. Kurz vor der Pleite wagt das Direktorium des Bahnunternehmens die Flucht nach vorn. An einem Februarmorgen des Jahres 1859, so schildert es der große Hamburg-Erzähler Kurt Grobecker in seinem Buch „Die Hamburger Hafenbahn“, findet der Senatssyndikus Carl Hermann Merck in der Post ein Schreiben, in dem ihm ein interessanter Vorschlag unterbreitet wird: Die Eisenbahner sind bereit, am Sandtorkai eine Umschlaganlage mit vier Hallen, Kränen, einem Speicher und natürlich Gleisen zu bauen, und das alles auch selbst zu bezahlen, wenn die Stadt ihr im Gegenzug das Gelände kostenlos überlasse.
„Zum ersten Mal kam hier der Gedanke der Trennung von Infrastruktur und Suprastruktur ins Spiel, wie sie noch heute praktiziert wird“, berichtet Grobecker. Es ist, wenn nicht die Geburtsstunde der Hafenbahn, so doch die Verlobung ihrer Eltern, des Bahnmanagements und des Senats.
Hamburg steckt damals mitten im Wiederaufbau nach dem Großen Brand von 1842. Ein neuer Stadtplan verlegt das Zentrum von der Trostbrücke zur Binnenalster. Die Straßen werden breiter, ein Sielsystem leitet Abwässer in die Elbe, in der City leuchten Gaslaternen, und nach Bergedorf fährt Norddeutschlands erste Eisenbahn.
Schon 1850 hatten Kaufleute moderne Kaianlagen gefordert
Das Industriezeitalter beginnt, Fabriken schießen überall wie Pilze aus dem Boden, nur ausgerechnet der Hafen hinkt hinterher: Noch immer ankern Frachter im Strom oder machen an Duckdalben fest, müssen Waren erst auf Schuten verladen werden.
Schon seit 1850 hat Hamburgs Kaufmannschaft deshalb immer vehementer den Bau moderner Kaianlagen gefordert. Der weitsichtige Wasserbaudirektor Johannes Dalmann setzt durch, dass der Hafen ohne Schleusen, also offen für die Tide bleibt. Er plant auch kurze Wege zwischen Schiff und Eisenbahn am Kai. Bisschen viel auf einmal. Die Stadtkämmerer stöhnen. Die Commerzdeputation strebt einen Mix aus staatlichem und privatem Kapital an. Damit kommt auch die Berlin-Hamburger Eisenbahn-Gesellschaft ins Spiel.
Im März 1860 gibt der Senat grünes Licht. Allerdings muss der Sandtorkai erst einmal gebaut werden. Sechs Jahre lang rammen Arbeiter Eichenpfähle für eine Holzvorsetze in den schlammigen Boden, stellen eiserne Dampf- und Handkurbelkräne auf, bauen Schuppen und Rampen und Gleise. Aber auch die Schuten und Ewer tun weiter ihren Dienst, schippern Waren zu den Speichern an den Fleeten.
Den Betrieb der Hafenbahn übernimmt die Hansestadt selbst: Die Kaufleute fürchten ein Monopol der Eisenbahn und wollen die Kontrolle keineswegs aus der Hand geben. Der Senat gründet eine staatliche Kaiverwaltung. Den Chef, Kaiinspektor Kuhlmann, wirbt sie praktischerweise bei der Eisenbahn ab.
Am Sonnabend, dem 11. August 1866, knapp zwei Monate nach der offiziellen Hochzeit, wird das Kind bereits aus der Taufe gehoben: Am Sandtorkai trifft der erste Zug der neuen Hafenbahn ein. Er rollt vom Deichtormarkt auf den Grasbrook zu einem erfreuten Empfangskomitee: Festmusik, Zukunftsreden, jede Menge Honoratioren aus Senat, Bürgerschaft, Commerzdeputation, Wasserbaudirektion, Industrie und Handel. Die Gäste besichtigen Schuppen und Kräne, lassen sich die Abläufe erklären und singen zum Schluss gemeinsam die „Hammonia-Hymne“.
Zwei Tage später schildern die „Hamburger Nachrichten“ das Ereignis in nüchternen Worten: „Längs dem Quai sind sieben an der Wasserseite offene Schuppen erbaut, welche, sämtlich unter einem Dache, mit Einschluss der zur Einfahrt dienenden Zwischenräume zusammen eine Länge von 3600 Fuß (etwa 1000 Meter; d. Red.) haben.“
Aus anfänglich 700 Metern wurden 305 Kilometer
Weiter heißt es: „Die Tiefe der Schuppen beträgt etwa 50 Fuß (ca. 14 Meter). Sie sind mit Gasbeleuchtung, Brückenwaagen und allen zum Transport der Waren erforderlichen Gerätschaften versehen. Dicht am Wasser läuft ein Schienengeleise für die zum Beladen und Löschen ... dienenden Dampfkräne, deren sieben bereits aufgestellt sind.“ Und schließlich schreibt der Reporter: „Nach der Landseite sind die Schuppen mit zahlreichen eisernen Luken zum Absetzen der Waren auf die Eisenbahn versehen.“ Und schließlich: „Die äußere Erscheinung der ganzen Anlage ist sehr geschmackvoll.“
Am 13. August legen als erste Schiffe die beiden Dampfer „Germania“ und „Planet“ am Sandtorkai an, und ein neues Zeitalter hat begonnen: Bis heute wurden aus 700 Metern Hafenbahn 305 Kilometer.