Berlin. Die deutschen Autobauer haben bei der Elektromobilität den Anschluss verpasst. Die Verkaufszahlen: mau. Was der Branche nun droht.

Die Produktivität in Deutschland ist zu niedrig, Kostenstrukturen zu hoch, zudem gibt es kaum Antworten auf die bei der Elektromobilität enteilten chinesischen Konkurrenten und Tesla: Deutschlands einstiger Konjunkturmotor, die Automobilindustrie, steckt in der Krise. Gelingt es Volkswagen, BMW und Mercedes jetzt nicht, gegenzusteuern und bald an alte Erfolge anzuknüpfen, würde sich das auch auf Jobs und Steuereinnahmen in Deutschland auswirken.

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Eine neue Berechnung des Instituts für Automobilwirtschaft (IfA), die dieser Redaktion exklusiv vorliegt, zeigt nun erstmals, wie massiv die Folgen für den Arbeitsmarkt und die öffentlichen Kassen sein könnten. Drei denkbare Szenarien, was sie bedeuteten würden und was für sie eintreten müsste.

Szenario 1: Verlust der Wettbewerbsfähigkeit

Das wohl dramatischste Szenario. Verglichen mit 2023 würde darin bis 2030 laut IfA-Berechnungen die Zahl der Beschäftigten in der deutschen Automobilwirtschaft von zwei Millionen Arbeitnehmern auf nur noch 755.000 sinken. Der Gesamtumsatz der deutschen Hersteller inklusive ihrer Zulieferer würde sich mehr als halbieren – von 893 Milliarden Euro (2023) auf 417 Milliarden Euro (2030). Dramatisch wären die Folgen auch für Staatskasse und Sozialsysteme: Gezahlte Arbeitnehmerentgelte würden auf 43 Milliarden Euro fallen (minus 64 Prozent zu 2023), das Steueraufkommen aus der Automobilwirtschaft ginge auf 39 Milliarden Euro zurück (minus 53 Prozent).

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    Eine derartige Entwicklung würde wohl nur eintreten, wenn die deutschen Automobilhersteller noch einige Jahre weiter hinterherfahren bei der Elektromobilität. Gleichzeitig müssten wohl auch Autos mit Verbrennungsmotor, mit denen VW, BMW & Co. heute noch gutes Geld verdienen, schneller als erwartet nicht mehr gefragt sein. Und: Deutschland müsste es über Jahre hinweg nicht gelingen, die hiesigen Standortbedingungen zu verbessern. Das heißt: Energiekosten bleiben hoch, Investitionsbedingungen vergleichsweise unattraktiv. „Ein massiver Wohlstandverlust wäre die Folge. Das würde die Grundfeste der Bundesrepublik erschüttern“, sagt Dirk Wollschläger, Direktor beim Center Automotive Research (CAR). Nur für realistisch halten er und andere Automobilexperten diese Entwicklung nicht.

    Szenario 2: Deutsche Automobilbauer sind nur noch Mittelmaß

    Durchaus denkbar. Vor allem, wenn es den chinesischen Konkurrenten mit ihren Elektroautos gelingt, noch besser als bislang in Europa Fuß zu fassen. Bisher würden sich Verkäufe von BYD, Nio & Co. hierzulande noch in „homöopathischen Dosen“ bewegen, sagt Wollschläger. Ein Blick in die Zulassungsstatistiken bestätigt das, ebenso aber auch beständiges Wachstum: Noch 2021 betrug der Anteil chinesischer Marken an allen Neuzulassungen in Deutschland lediglich 0,2 Prozent, im vergangenen Jahr waren es immerhin bereits 1,2 Prozent.

    Unter den Top 10 der meistverkauften E-Autos in Deutschland fand sich 2023 noch kein chinesisches Modell. Erst auf Rang 11 folgt der MG4 mit knapp 13.000 verkauften Einheiten. China-Expertin Beatrix Keim vom CAR hält höhere Marktanteile für sehr realistisch: „Die Fahrzeuge sind qualitativ hochwertig, schon länger in China in Nutzung und damit erprobt. Werden sie in Deutschland sichtbarer, zum Beispiel über eigene Servicepunkte und eben mehr Fahrzeugen auf den Straßen, kann das Vertrauen in die chinesischen Autofirmen steigen“, erklärt Keim, die dann Marktanteile in Europa zwischen 10 und 20 Prozent für durchaus denkbar hält.

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    Grundsätzlich müssten sich die deutschen Hersteller auch bei diesem Szenario an die Veränderungen anpassen. Werkschließungen und auch Entlassungen wären die Folge. Möglicherweise wäre Volkswagen als größter deutscher Autobauer überproportional davon betroffen. Im Premium-Segment, also bei BMW oder Mercedes, wären Einschnitte wohl weniger drastisch. Das IfA rechnet im Szenario „Mittelmaß“ mit dem Verlust von gut einem Drittel der Arbeitsplätze in der deutschen Automobilwirtschaft. Das Steueraufkommen aus der Autoindustrie würde um etwa ein Viertel zurückgehen.

    Szenario 3: Volkswagen, BMW & Co. können an alte Stärke anknüpfen

    Deutschland schafft es nachhaltig, die Standortbedingungen zu verbessern, der Strukturwandel gelingt. Die Produktpalette der deutschen Autohersteller ist attraktiv, ebenso die Preise. Wird schwer, heißt es von Experten, wobei es nicht gänzlich unmöglich erscheint. In China zum Beispiel müssten sich für dieses Szenario Rahmenbedingungen für dortige Hersteller allerdings wohl grundlegend verändern.

    „Denkbar wäre, dass das staatliche Subventionssystem für die Autoindustrie hinterfragt wird und die Branche daraufhin zusammenbricht, ähnlich, wie wir es zuletzt bei der chinesischen Immobilienbranche erlebt haben. Die ersten Anzeichen sind durch die schlechte Profitabilität vieler chinesischer Hersteller und diverse Regularien bereits vorhanden“, sagt Beatrix Keim. Deutsche, andere europäische und auch japanische sowie koreanische Hersteller könnten dann wiederum Marktanteile im Reich der Mitte übernehmen.

    Derzeit aber kämpft die deutsche Autobranche noch mit Überkapazitäten. Insbesondere bei Volkswagen ist die Auslastung bestehender Werke schlecht, lag zuletzt nur bei 60 Prozent. Laut Volkswagen-Finanzchef Arno Antlitz verkauft Volkswagen in Europa jährlich rund 500.000 Autos weniger als vor der Corona-Pandemie – eine Zahl, die der Produktion von zwei Werken entspricht. Zunächst gilt es, sich gesundzuschrumpfen. „VW muss an die Gehälter ran“, sagt Experte Wollschläger. Und auch die Vielzahl an zur Serienausstattung buchbaren Optionen, also die Modellkomplexität, müsste zurückgefahren werden. Ein Schritt, der in der Produktion, aber auch im Vertrieb und Marketing sowie in der Materialwirtschaft Geld sparen würde.

    Das IfA hat die derzeitige Ausgangslage bei der Berechnung des positivsten Szenarios berücksichtigt: Im Vergleich zu 2023 würde auch hier Beschäftigung leicht abgebaut, um gut 80.000 Arbeitnehmer (gut 3,7 Prozent) bis 2030. Das Steueraufkommen würde um 7,5 Prozent auf 77 Milliarden Euro im Jahr 2030 sinken.