Athen. Deutschland fehlen Millionen Fachkräfte. Ein Problem, das auch die griechische Regierung kennt. Deren Lösung sorgt nun für Debatten.
Faule Griechen? Von wegen. Nirgendwo in der EU, außer in Polen, arbeiten die Menschen länger als in Griechenland. Und jetzt soll es noch mehr werden. Weil qualifizierte Mitarbeiter immer schwerer zu bekommen sind, führt die konservative Regierung zum 1. Juli die Möglichkeit einer Sechstagewoche ein. Beschäftigte, die einen zusätzlichen Tag pro Woche arbeiten, werden dafür mit üppigen Zuschlägen belohnt.
Der akute Arbeitskräftemangel überrascht auf den ersten Blick. Denn Griechenland hat nach Spanien die höchste Arbeitslosigkeit in der gesamten Europäischen Union. Im April waren 521.295 Menschen ohne Beschäftigung. Das entspricht einer Arbeitslosenquote von 10,8 Prozent. Dennoch suchen viele Branchen händeringend Fachkräfte.
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Allein im Tourismus, einem starken Wachstumsmotor der griechischen Wirtschaft, fehlen nach Verbandsangaben rund 65.000 Beschäftigte. Fast jede fünfte Stelle ist nicht besetzt. Akuten Arbeitskräftemangel gibt es in Griechenland nach Angaben des Personaldienstleisters Manpower Greece auch in der Industrie und im Baugewerbe, im Energiesektor, in der IT- und Telekommunikationsbranche, bei Transport- und Logistikunternehmen sowie im Gesundheitswesen.
Griechenland: Hohe Zuschläge locken – doch es gibt eine Obergrenze
Während die Regierung den Personalmangel in der Landwirtschaft, auf dem Bau und in der Gastronomie mit der Anwerbung von Arbeitskräften aus Ägypten, Indien, Albanien und anderen Schwellenländern zu mindern versucht, geht sie bei den Fachkräften einen anderen Weg. Ein neues Gesetz bietet den Beschäftigten Anreize für Mehrarbeit. Wer einen sechsten Tag pro Woche arbeiten möchte, bekommt dafür 40 Prozent mehr Gehalt.
Fällt der sechste Arbeitstag auf einen Sonn- oder Feiertag, gibt es laut Gesetz dafür sogar 115 Prozent mehr Lohn. Die neue Regelung zielt vor allem auf Unternehmen, die 12 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche in einem Schichtsystem arbeiten und deren Mitarbeiter bisher fünf Tage sowie 40 Wochenstunden beschäftigt sind. Es gibt aber Einschränkungen: Die Sechstagewoche ist freiwillig. Der Arbeitgeber muss sie bei der Arbeitsverwaltung anmelden und begründen.
Soll heißen: Firmen können den Beschäftigten die Mehrarbeit anbieten, sie aber nicht dazu verpflichten. Außerdem darf die Wochenarbeitszeit 48 Stunden nicht übersteigen. Das entspricht auch den EU-Vorschriften. Die Sechstagewoche kann also nicht mit weiteren Überstunden kombiniert werden. Überdies haben die Beschäftigten in jeder Woche Anspruch auf einen freien Tag.
Sechstagewoche: Ein Modell gegen Fachkräftemangel in Deutschland?
Auf Deutschland wäre das Modell allerdings schwer übertragbar, sagt der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, dieser Redaktion: „Eine Akzeptanz für die Erhöhung der Wochenarbeitszeit von Beschäftigten in Vollzeit in Deutschland ist nicht vorhanden. Ganz im Gegenteil, die Mehrheit der Beschäftigten in Vollzeit möchte gerne ihre Wochenarbeitszeit reduzieren.“
Allerdings sei ein Vergleich der beiden Länder ohnehin problematisch, sagt der Wirtschaftsexperte: „Griechenland kommt aus einer schweren Wirtschaftskrise. Die Menschen dort haben nur knapp die Hälfte des monatlichen Einkommens von Menschen in Deutschland und daher einen deutlich geringeren Wohlstand.“
Der beste Weg für Deutschland, mehr Beschäftigung zu schaffen, sei es, die vielen Hürden für Mehrarbeit bei Teilzeit-Beschäftigten abzubauen. „Viele Frauen in Teilzeit möchten gerne deutlich mehr Stunden arbeiten“, so Fratzscher. „Dies erfordert Reformen des Ehegattensplittings, der Mitversicherung und der Minijobs und massive Investitionen in den Ausbau von Kitas und Schulen.“ Bei nicht erwerbstätigen Frauen sieht er das größte ungehobene Potenzial für die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt.
Sechs-Tage-Woche: Das meint die mächtige Gewerkschaft DGB
In Deutschland braucht es für längere Arbeitszeiten keine staatliche Regelungen, stellt Anja Piel, Vorstandsmitglied im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) klar. „Eine Verteilung der Arbeitszeit auf mehr als fünf Tage in der Woche mit entsprechendem Ausgleich ist in Tarifverhandlungen jederzeit möglich.“ Konkrete Vereinbarungen dazu seien Sache der Tarifvertragsparteien, „der Gesetzgeber ist da nicht gefragt“. Kluge Arbeitgeber gewinnen nach Ansicht von Piel mehr Fachkräfte, in dem sie mehr ausbilden und zur Tarifbindung stehen.
Zusätzliche finanzielle Anreize für Überstunden beurteilt Piel dagegen skeptisch. Diese könnten gerade Menschen mit hoher Belastung in unteren Lohngruppen falsch motivieren, mit noch mehr Stunden über ihre Grenzen zu gehen und ihre Gesundheit zu riskieren. „Wenn Beschäftigte zunehmend durch zu hohe Belastung krank werden und es in der Folge nicht gesund bis zur Rente schaffen, dann hilft das auch niemandem.“
Arbeitszeiten im EU-Vergleich: Deutschland zählt nicht zur Spitze
Der Fachkräftemangel in Griechenland gehört zu den Langzeitfolgen der Staatsschuldenkrise in den 2010er Jahren. Während der damaligen Rezession stieg die Arbeitslosenquote auf 28 Prozent. Etwa 600.000 überwiegend junge, meist gut ausgebildete Griechinnen und Griechen verließen das Land, weil sie in ihrer Heimat keine berufliche Zukunft sahen. Das Land verlor damals viele seiner besten Talente.
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Aus der Krisenära datiert auch das Stereotyp von den „faulen Griechen“. Vor allem deutsche Boulevardmedien kultivierten es damals. Mit der Wirklichkeit hat es nichts zu tun. Laut Eurostat arbeiteten die Erwerbstätigen in Griechenland 2023 im Schnitt 2000,1 Stunden. In der EU wurde mit 2019,5 Stunden nur in Polen noch länger gearbeitet. Zum Vergleich: In Deutschland waren es 1342,4 Stunden. Bei der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit für Vollzeitbeschäftigte lagen die Griechen 2022 mit 41 Stunden in der EU an der Spitze, Deutschland kam nur auf 34,7 Stunden.
Die langen Arbeitszeiten bringen den Beschäftigten allerdings nicht viel. Der durchschnittliche Bruttolohn betrug 2023 in Griechenland gerade mal 1251 Euro. 31 Prozent der Beschäftigten verdienen sogar weniger als 800 Euro brutto im Monat. Die niedrigen Durchschnittseinkommen sind ebenfalls eine Krisenfolge: Die Reallöhne liegen noch immer um 27 Prozent unter dem Niveau von 2010. Bei der Kaufkraft kommen die Griechen nur auf 67 Prozent des EU-Durchschnitts. Weniger können sich mit 64 Prozent nur die Bulgaren leisten.
Viel Arbeit, aber geringe Löhne: Schwarzarbeit ist zum Alltag geworden
Um über die Runden zu kommen, arbeiten in Griechenland viele Menschen in einem Zweitjob – oft schwarz. „Wegen des Arbeitskräftemangels lassen manche Arbeitgeber die Beschäftigten Überstunden machen, die ‚schwarz‘ bezahlt werden“, sagt der frühere Arbeitsminister Adonis Georgiadis, der die Sechstagewoche auf den Weg brachte. Es soll mit Lohnzuschlägen den Arbeitnehmern einen Anreiz bieten, statt „schwarzer“ Überstunden einen regulären sechsten Tag pro Woche zu arbeiten.
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Davon profitiert auch der Staat, denn er erhält dadurch höhere Steuereinnahmen und Sozialversicherungsbeiträge. Darüber hinaus will die Regierung aber auch mehr Rentnerinnen und Rentner in den Arbeitsprozess zurückholen. Bisher mussten Pensionäre, die weiter arbeiten, auf 30 Prozent ihrer Bezüge verzichten. Viele arbeiteten deshalb schwarz. Statt 30 Prozent Rentenkürzung zahlen arbeitende Pensionäre künftig nur zehn Prozent Beitrag in die Sozialversicherung.
Das scheint Erfolg zu haben. Bisher schätzte man bei der Sozialversicherungsanstalt EFKA die Zahl der schwarzarbeitenden Rentner auf etwa 100.000. Seit Einführung der neuen Regelung zum Jahresbeginn haben nach Angaben des Arbeitsministeriums bereits 81.000 Pensionäre ihre Erwerbstätigkeit auf der Plattform der Sozialversicherungsanstalt angemeldet.