Köln. Der Cum-Ex-Betrug mit illegalen Aktiendeals gilt als größter Steuerskandal der Republik. Nun kündigt die Chefermittlerin und wechselt zur Organisation Finanzwende. Sie wirft der Politik große Versäumnisse vor.
Die Cum-Ex-Chefermittlerin Anne Brorhilker hat gekündigt - und kritisiert die politische Aufarbeitung des Steuerskandals. Brorhilker habe um ihre Entlassung aus dem Beamtenverhältnis gebeten, sagte ein Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft Köln am Montag auf dpa-Anfrage. Zuvor hatte der WDR berichtet. Zu Brorhilkers Gründen äußerte sich die Behörde nicht. Die Oberstaatsanwältin nahm eine zentrale Rolle bei der Verfolgung von Cum-Ex-Steuerbetrügern ein.
Dem WDR sagte Brorhilker: „Ich war immer mit Leib und Seele Staatsanwältin, gerade im Bereich von Wirtschaftskriminalität, aber ich bin überhaupt nicht zufrieden damit, wie in Deutschland Finanzkriminalität verfolgt wird.“ Dies lasse sich in einem Satz zusammenfassen: „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen.“
Die Politik habe elf Jahre nach Bekanntwerden der ersten Cum-Ex-Fälle noch immer nicht hinreichend reagiert. Steuerdiebstähle seien längst nicht gestoppt, es gebe Cum-Ex-Nachfolgemodelle. Es werde nicht kontrolliert, was bei Banken und auf den Aktienmärkten geschehe. Brorhilker sprach sich für mehr Personal in der Strafverfolgung und für eine zentrale bundesweite Behörde zur Bekämpfung von Finanzkriminalität aus.
Staat um zweistelligen Milliardenbetrag geprellt
In rund 120 Cum-Ex-Ermittlungsverfahren wurde in Köln unter Brorhilkers Führung gegen 1700 Beschuldigte ermittelt, die Staatsanwaltschaft galt bundesweit als federführend bei der Aufarbeitung des Skandals.
Durch den Cum-Ex-Betrug mit illegalen Aktiendeals, der seine Hochphase von 2006 bis 2011 hatte, wurde der deutsche Staat schätzungsweise um einen zweistelligen Milliardenbetrag geprellt. Er gilt als größter Steuerskandal der Bundesrepublik. Dabei wurden Papiere mit („cum“) und ohne („ex“) Dividendenansprüche in kurzer Zeit zwischen Finanzakteuren hin- und hergeschoben. Am Ende erstattete der Fiskus Banken, Aktienhändlern und Beratern unwissentlich Kapitalertragssteuern, die gar nicht gezahlt worden waren. Erst mit einer zum Januar 2012 greifenden Gesetzesänderung wurde diesen Deals ein Riegel vorgeschoben.
Inzwischen wurden einige Täter verurteilt, darunter der Steueranwalt und Cum-Ex-Architekt Hanno Berger zu acht Jahren Haft sowie Ex-Beschäftigte der Maple Bank. Ein früherer Staranwalt der Großkanzlei Freshfields musste ferner wegen Beihilfe zur schweren Steuerhinterziehung ins Gefängnis. Vor Gericht steht zudem der Warburg-Bankier Christian Olearius.
Brorhilker will Aufklärung bei Finanzwende vorantreiben
Brorhilker kündigte gegenüber dem WDR an, sich künftig als Geschäftsführerin der Nichtregierungsorganisation „Bürgerbewegung Finanzwende“ für den Kampf gegen Finanzkriminalität einsetzen zu wollen. Es gehe ihr darum, das Übel an der Wurzel zu fassen zu bekommen. „Der Wechsel von Anne Brorhilker zu Finanzwende ist eine Kampfansage an Finanzkriminelle und ihre Unterstützer“, sagte Finanzwende-Vorstand Gerhard Schick.
Der Cum-Ex-Skandal ist auch mehr als ein Jahrzehnt nach der Hochphase noch immer nicht umfassend strafrechtlich aufgearbeitet - Lücken gibt es etwa bei der Rolle namhafter Großbanken und früherer Landesbanken wie der WestLB. Noch mehr Geld als mit Cum-Ex entging dem Staat bei artverwandten Cum-Cum-Deals, die weiter verbreitet waren und kaum juristisch aufgearbeitet sind. Der Mannheimer Finanzwissenschaftler Christoph Spengel schätzt den Steuerschaden zwischen 2000 und 2020 auf 28,5 Milliarden Euro.
Brorhilker: Justiz zu schwach gegen finanzstarke Täter
„Täter mit viel Geld und guten Kontakten treffen auf eine schwach aufgestellte Justiz und können sich aus diesen Verfahren schlicht herauskaufen“, sagte Brorhilker. Sie sprach sich dagegen aus, die Verfahren im Wege von Vergleichen zu beenden, um den Aufwand für die Justiz zu reduzieren. Dabei bekäme der Staat oft nicht einmal die Hälfte der Summe, die ihm zustehe. „Warum sollten wir uns da ausnehmen lassen wie eine Weihnachtsgans?“
NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) hatte im Herbst versucht, tiefgreifende Veränderungen bei der Staatsanwaltschaft Köln durchzusetzen, die auf breite Kritik gestoßen und als Entmachtung Brorhilkers verstanden worden waren. Limbach hatte argumentiert, es gehe nicht darum, sondern um eine Entlastung und Beschleunigung, damit die zahlreichen noch anhängigen Verfahren nicht verjähren. Der Minister gab sein Vorhaben schließlich auf.
Grund für ihr Ausscheiden sei nicht dieser Streit gewesen, sagte Brorhilker dem WDR: „Ich war über die Pläne, meine Hauptabteilung aufzuspalten, schon sehr überrascht. Ich habe das damals auch nicht als die Unterstützung verstanden, als die es gedacht gewesen sein sollte.“ Inzwischen habe es aber gute Gespräche gegeben und das Ministerium habe vier weitere Stellen geschaffen. „In Köln sind sie auf einem guten Weg“, sagte Brorhilker.
Die Gefahr, dass die Ermittlung mit ihrem Ausscheiden ins Stocken geraten könnte, sehe sie nicht. „Es sind vier Abteilungen gegründet worden mit vier Abteilungsleitern. Deswegen sind wir gut aufgestellt und ich finde, meine Kollegen machen eine hervorragende Arbeit. Wenn man sie weiterhin unterstützt, wird das auch weiterhin gut laufen. Ich habe das Gefühl, dass die Strafverfolgung wirklich in guten Händen ist“, sagte sie.
Bedauern beim NRW-Justizminister
Brorhilker habe sich um die strafrechtliche Aufarbeitung der Cum-Ex-Machenschaften außerordentlich große Verdienste erworben, teilte NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) mit. „Es ist deshalb bedauerlich, dass sie für uns überraschend heute mitgeteilt hat, die Justiz Nordrhein-Westfalen verlassen zu wollen.“
Die Justiz werde sich weiterhin für die effektive und nachhaltige Verfolgung der Cum-Ex-Straftaten einsetzen. „Die Bürgerinnen und Bürger, die um Milliarden Steuergelder betrogen wurden, haben ein Recht darauf, dass der Rechtsstaat die Drahtzieher zur Verantwortung zieht und die unrechtmäßig angeeigneten Steuergelder zurückholt.“ Die Oppositionsfraktionen SPD und FDP forderten einen Bericht des Justizministers im Rechtsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags.