Hamburg. Joachim Gauck ist am Sonntag in Hamburg, um sein neues Buch vorzustellen, in dem er unter anderem Helmut Schmidt kritisiert.
Es ist Zufall, dass Joachim Gauck das Thalia Theater in Hamburg (Sonntag, 11 Uhr) als Ort ausgewählt hat, um zusammen mit Moderator Reinhold Beckmann sein neues Buch vorzustellen – aber inhaltlich passt es. Denn in „Erschütterungen. Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht“ beschäftigt sich der ehemalige Bundespräsident auch mit zwei der bekanntesten Hamburger Politiker und deren Einstellungen zu Russland und der Ukraine. „Besonders überrascht – und bestürzt – haben mich seinerzeit die Äußerungen von Helmut Schmidt, den ich wegen seiner Entschlossenheit in der Nachrüstungsdebatte sehr schätze“, schreibt Gauck.
Neues Buch von Joachim Gauck: Ex-Bundespräsident bestürzt über Helmut Schmidt
Nun hat der ehemalige Bundeskanzler Schmidt den Angriff Russlands auf die Ukraine im vergangenen Jahr nicht mehr miterlebt, er starb im November 2015, aber nach der Krim-Annexion 2014 hielt er, so Gauck weiter, „das Vorgehen des russischen Präsidenten Putin für ,durchaus verständlich’ und Sanktionen ,für dummes Zeug’. Was bei ihm aber gleichzeitig zum Ausdruck kam, war die Geringschätzung gegenüber der ukrainischen Nation.“ In der „Bild“-Zeitung habe Schmidt erklärt, dass die Politik des Westens auf einem großen Irrtum basiere: dass es ein Volk der Ukrainer gebe, eine nationale Identität.
Joachim Gauck kritisiert Helmut Schmidts Geringschätzung der ukrainischen Nation
Das verstört Gauck genauso wie das Buch des Hamburger Altbürgermeisters Klaus von Dohnanyi. Der habe in „Nationale Interessen“, einem „Spiegel“-Bestseller, der wenige Wochen vor dem russischen Einmarsch in der Ukraine erschien, „geradezu obsessiv das angeblich aggressive, antirussische, machtbesessene Amerika beschuldigt, eine ,Russland-Phobie’ entwickelt zu haben und eine Dämonisierung Putins zu betreiben“.
Gauck schreibt, dass Dohnanyi Hinweise auf eine imperiale Gefahr seitens Russlands beiseitewische, und zitiert ihn dazu wie folgt: „Beweise dafür gibt es keine, denn bei der rechtswidrigen Annexion der Krim, die immer wieder zur Begründung einer militärischen Bedrohung der Ostgrenzen der EU herangezogen wird, handelt es sich doch eindeutig um einen Sonderfall.“
Für Dohnanyi sei Russland, so schreibt Gauck weiter, „das Land mit einer bedrohten Existenz, das ,immer wieder Angriffe aus dem westlichen Europa abwehren musste, die mit großen Verwüstungen und Millionen Toten verbunden waren’.“ Ein Bild, das Gauck ebenso wie die „Anerkennung einer imperialen Einflusssphäre bitter und empörend“ findet.
Bundespräsident lobt Zeitenwende-Rede von Olaf Scholz
Ein anderer Hamburger Spitzenpolitiker kommt in Gaucks Buch über die vor allem durch den Ukraine-Krieg ausgelösten Erschütterungen unserer Demokratie gut weg. Über die Zeitenwende-Rede von Olaf Scholz schreibt der Bundespräsident a. D.: „Am 27. Februar 2022 saß ich auf der Besuchertribüne im Deutschen Bundestag und traute meinen Ohren nicht. Als ich von einer Zeitenwende hörte, untermauert von politischen Entscheidungen, von denen ich nicht weiß, ob eine andere Regierung sie getroffen hätte, begriff ich: Hier passiert wirklich etwas Neues. (...) Es war die Verabschiedung von einem Russlandbild, das überwiegend von Wunschdenken geprägt war und das in weiten Teilen Deutschlands verbreitet war. (...) Die Rede von Olaf Scholz war die wohl einschneidendste Korrektur in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik seit Jahrzehnten.“
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Joachim Gauck versteht gesellschaftliche Debatte über Gewalt und Frieden nicht
Heute, so Gauck, empfinde er die Erleichterung des 27. Februar aber weniger, was nicht nur an der fehlenden Umsetzung der Scholz-Rede durch die Ampel-Regierung liege. In der Gesellschaft habe sich „entlang der Frage von Waffenlieferungen eine äußerst kontroverse und grundsätzliche Debatte darüber entzündet, wie Deutschland es mit der Gewalt und mit dem Frieden hält. Wie weit haben wir es also tatsächlich mit einer Zeitenwende zu tun? Werden wir uns wirklich als wehrhafte Demokratie aufstellen oder zurückfallen in einen Zustand des Status quo und der freiwilligen Entmächtigung?“
Die Frage stellt sich auch deshalb, weil Gauck in dem Buch, das er zusammen mit Helga Hirsch geschrieben hat, eine Umfrage zitiert, nach der im Falle eines Angriffs auf die Bundesrepublik nur zehn Prozent der Bürgerinnen und Bürger bereit wären, das Land und damit die Demokratie zu verteidigen, während 25 Prozent angaben, in diesem Fall lieber an einen sicheren Ort zu fliehen.
Ex-Bundespräsident kritisiert auch die Regierungen von Angela Merkel
„Wir sind es nicht mehr gewöhnt, uns verteidigen zu müssen“, sagt der Bundespräsident im Gespräch mit dem Abendblatt. Und weiter: „Der wichtigste Punkt ist: Wir müssen einem, dem das Recht des Stärkeren wichtiger ist als die Stärke des Rechts, Grenzen setzen, und wir müssen begreifen, dass die Ukraine im Vorfeld auch unsere Freiheit verteidigt. Wenn wir den Appetit eines Aggressors nicht zügeln, dann sind wir irgendwann selber bedroht. Wir werden lernen müssen, wehrfähig zu sein.“
Die Zeiten des Wunschdenkens seien endgültig vorbei, auch wenn das die Vorgängerregierung der Ampel-Koalition nicht habe wahrhaben wollen: „Ich hatte während der Regierungszeit Angela Merkels den Eindruck, dass ein veritables Problem dadurch entstand, dass die Haltungen der beiden Parteien, die drei von vier Merkel-Regierungen bildeten, sich in einem wesentlichen Punkt deckten“, schreibt Gauck. „Weder bei Christdemokraten noch bei Sozialdemokraten existierten Szenarien für Situationen, in denen die Diplomatie an ihr Ende kommt. In denen der Erfolg nicht mehr von der Soft Power abhängt, nicht mehr von Telefonaten, Konferenzen, Gesprächen, der Geschicklichkeit der Akteure, sondern von der Hard Power, der realen Macht, der militärischen Stärke.“