Hamburg. Online-Supermarkt zieht mit Warenlager für 10.000 Produkte in Neubau nach Wilhelmsburg. Was ihn von anderen Anbietern unterscheidet.

Frederic Knaudt nimmt schon mal Maß. Der Deutschlandchef des Lebensmittel-Lieferdienstes Picnic steht in der oberen Etage des neuen Logistikstandorts Mach2 in Wilhelmsburg. 16.000 Quadratmeter Lagerfläche hat das Unternehmen hier gemietet. Noch ist es eine Baustelle. „Ab Herbst richten wir hier unseren Online-Supermarkt ein“, sagt der 37-Jährige. Zwischen den meterhohen Betonwänden ist in Regalen und Kühleinheiten Platz für Brot, Butter und Tiefkühlpizza – insgesamt für 10.000 Artikel.

In diesem Moment kommt ein Picnic-Elektrolieferwagen die Rampe hochgefahren. Der selbstentwickelte Mini-Transporter ist so etwas wie das Erkennungszeichen des niederländischen Start-ups, das in Deutschland inzwischen in 60 Städten in Nordrhein-Westfalen unterwegs ist und Edeka als Partner im Boot hat. Mit dem Start in Hamburg soll die bundesweite Expansion eingeleitet werden. „Spätestens Anfang 2023 geht es los“, sagt Frederic Knaudt.

Neuer Lebensmittel-Lieferdienst: Picnic ist für alle

Schon jetzt können Hamburger zwischen mehr als einem halben Dutzend Anbietern wählen, wenn sie sich Lebensmittel bringen lassen wollen statt selbst in den Supermarkt zu gehen. Am längsten bietet Rewe den Service flächendeckend an. In den vergangenen beiden Jahren sind – beflügelt durch die Pandemie – neue Onlineportale wie Gorillas, Flink, Getir, Bringoo und Flaschenpost dazugekommen, die vor allem in den innerstädtischen Wohnvierteln mit Express-Lieferungen in wenigen Minuten werben.

Dazu kommen spezialisierte Anbieter wie etwa Frischepost oder Gut Wulksfelde für Bio- und Regionalprodukte. Wo ist da noch eine Lücke im Markt? „Picnic ist ein Online-Supermarkt, den sich jeder leisten kann“, sagt Knaudt, der für den Exklusivtermin mit dem Abendblatt aus der Zentrale in Düsseldorf angereist ist. Anders als bei der Konkurrenz richte sich Picnic vor allem an Familien, die bei ihrem Wocheneinkauf auf einen guten Preis, das volle Sortiment und verlässlichen Service setzen.

Picnic: Der moderne Milchmann

Ein weitere Besonderheit: Die Picnic-Fahrer, sogenannte Runner, fahren auf festgelegten Routen durch die Stadt. „Wir sind die moderne Form des Milchmanns“, bringt Knaudt das Prinzip auf eine griffige Formel. So wie früher der Wagen mit den Milchflaschen kommen auch die Picnic-Transporter einmal am Tag in jede Straße und bringen den Wocheneinkauf. Nach der Bestellung bis 22 Uhr können die Kunden eins der verfügbaren Zeitfenster auf der Route in ihrem Liefergebiet wählen, das auch bei weiteren Bestellungen immer wieder genommen werden kann. Während andere Dienste ähnlich wie ein Taxi auf Anforderung kommen, funktioniert Picnic eher wie eine Buslinie.

„Das ist effizienter, weil es Wegzeit spart“, sagt Knaudt, der nach mehreren Jahren bei der Zalando-Mutter Rocket Internet in Berlin ein Start-up mit Kochkisten gegründet hatte. 2018 gehörte der Betriebswirt zu den Mitgründern von Picnic Deutschland. Auf jeweils zwei Stunden ist jede Picnic-Tour angelegt. 16 Kunden, so die Vorgabe, sollen in dem Zeitraum beliefert werden. Bei Vollauslastung sind drei Touren am Tag vorgesehen – macht etwa 50 Zustellungen.

Picnic: Supermarktpreise und ohne Liefergebühren

Ausgangspunkt für das Picnic-System in Hamburg ist das zentrale Lager in Wilhelmsburg. Dorthin wird in der Nacht von Hauptlieferant Edeka Nord sowie regionalen Partnern gebracht, was bis zum Vorabend bestellt wurde. Auch das Brot wird erst gebacken, wenn es einen Abnehmer gibt. Erst wird alles in die Regale geräumt, dann packen Lagerbeschäftigte, sogenannte Shopper, in Kisten zusammen, was die Kunden geordert haben. Diese werden dann zu den Picnic-Stützpunkten in der ganzen Stadt gebracht und dort in die E-Transporter verladen.

„Unser Konzept macht es möglich, die Produkte zum gleichen Preis wie im Supermarkt anzubieten“, sagt Deutschlandchef Knaudt. Liefergebühren gibt es nicht. Dass Picnic beim Preisvergleich gut abschneidet, zeigt ein aktueller Test der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“, die im selben Verlag wie das Abendblatt erscheint. Bei einem Einkauf von 15 ausgewählten Lebensmitteln in Oberhausen war Picnic am billigsten – und lag damit sogar vor Lidl.

E-Lebensmittelhändler legen überproportional zu

Bislang spielt der Online-Lebensmittelhandel in Deutschland noch eine sehr kleine Rolle. Trotz des starken Wachstums während der Corona-Pandemie hat der Bereich E-Food gerade mal einen Anteil von 3,2 Prozent. Das hat eine neue Studie des Marktforschungsinstituts GfK und der Unternehmensberatung Accenture ergeben. Die Experten sehen allerdings enormes Wachstumspotenzial auf einen Marktanteil von zwölf Prozent bis 2030. Aktuell haben Händler wie Rewe, die sowohl stationär als auch online Nahrungsmittel verkaufen, daran einen Anteil von etwa 50 Prozent. Das könnte sich aber bald ändern, heißt es in der Studie. Reine E-Lebensmittelhändler legten überproportional zu.

Das hat auch mit dem rasanten Wachstum der sogenannten Quick-Lieferdienste wie Gorillas und Flink zu tun, das in den vergangenen beiden Jahren mit enormen Investment-Kapital gepusht wurde. Welche Erfolgschancen diese Unternehmen angesichts von steigenden Preisen und sinkender Konsumlaune langfristig haben, ist nicht sicher. Die Studienautoren warnen die traditionellen Händler allerdings ausdrücklich davor, die Entwicklung ähnlich wie im Non-Food-Bereich nicht zu verschlafen. „Rein stationäre Formate werden verlieren“, heißt es.

Nächster Konkurrent: Knuspr bereits angekündigt

Der Markt ist hart umkämpft. Der deutsche Lebensmittelhandel hat ein Umsatzvolumen von knapp 150 Milliarden Euro. In Hamburg hat sich bereits ein weiterer großer Online-Supermarkt angekündigt: Knuspr, eine Tochterfirma des tschechischen Lieferdiensts Rohlik, der vor allem in osteuropäischen Ländern arbeitet. Knuspr bietet ähnlich wie Picnic ein Vollsortiment und setzt dabei nach eigenen Angaben mit einem Anteil von mehr als 30 Prozent auf Bio- und Regionalprodukte. Hauptunterschied ist die Lieferzeit, die nicht mehr als drei Stunden betragen soll. Nachdem der Lieferservice bereits in München sowie im Rhein-Main-Gebiet arbeitet und dort nach eigenen Angaben 70.000 Kunden erreicht, ist der nächste Expansionsschritt Hamburg.

Aktuell baut Knuspr ebenfalls in Wilhelmsburg ein sogenanntes Fulfilmentcenter mit automatisierten Lager- und Bereitstellungssystemen, erstmals überhaupt auch für Frischeprodukte. Eigentlich sollte es schon im September losgehen mit dem Betrieb, aber nach Angaben eines Sprechers verzögern sich die Bauarbeiten um einige Wochen. Der Start sei noch im Herbst dieses Jahres geplant. Auch bei der Bio-Supermarktkette Alnatura, die gerade in einigen Berliner Stadtteilen in einem Test zusätzlich zu Listungen etwa bei Picnic, Knuspr oder Bringmeister auch selbst ihre Waren ausliefert, steht Hamburg auf der Agenda.

Bis zu 200 Arbeitsplätze im Wilhelmsburger Lager

Picnic – mit einer Milliarde Euro Umsatz etwa doppelt so groß wie Konkurrent Rohlik – setzt jetzt in Deutschland zum Angriff auf Rewe an. Edeka, mit 11.000 Standorten die größte Supermarktkette des Landes, hat Millionen in den Lieferdienst investiert und hält 20 Prozent an dem niederländischen Start-up. Zwischen Flensburg und Füssen hat das Unternehmen in vergangenen Jahr 160 Millionen Euro erwirtschaftet, doppelt so viel wie 2020.

Es ist allerdings angesichts der hohen Investitionen in das Wachstum tief in der Verlustzone. Zuletzt hatte sich die Bill&Melinda-Gates-Stiftung an einer 600-Millionen-Euro-Finanzierungsrunde beteiligt. Das Potenzial ist groß. Im niederländischen Amersfoort mit 160.000 Einwohnern, wo Picnic 2015 zuerst an den Start gegangen war, liegt der Umsatz mittlerweile bei knapp 30 Millionen Euro. Das entspricht laut Knaudt einem zweistelligen Marktanteil am gesamten Lebensmittelhandel der Stadt.

Online-Supermarkt Picnic sucht Personal in Hamburg

Aktuell läuft in Hamburg die Personalsuche. Im Zentrallager sollen bis zu 200 Arbeitsplätze entstehen, mit Fahrern und weiteren Positionen bis zu 1000 in der Region Nord. Insgesamt sollen in Hamburg und Schleswig-Holstein 20 Stützpunkte mit jeweils bis zu 50 Picnic-Transportern eröffnet werden, unter anderem in Kiel, Neumünster und Lübeck.

Auch in Frankfurt und Berlin werden gerade Standorte aufgebaut. Als Zielgruppe hat Picnic vor allem junge, internet-affine Familien im Visier, die eher in Stadtrandlagen als in den innerstädtischen Szene-Vierteln wohnen. „Unser Ziel ist es, jeden zweiten Haushalt in Deutschland zu erreichen“, sagt Frederic Knaudt.

In Nordrhein-Westfalen ist Picnic nach eigenen Angaben der größte Online-Lebensmittelhändler und steuert eine Lieferflotte von 1000 E-Transportern durchs Land. Aktuell liefert das Unternehmen an 450.000 Kunden, 40.000 weitere stehen auf der Warteliste. Auch in Hamburg gibt es schon Interessenten. „14.000 Hamburger haben sich gemeldet, die beim Start informiert werden wollen“, sagt Knaudt.