Hamburg. Während der US-Flugzeugbauer mit Problemen zu kämpfen hat, liegt Rivale Airbus derzeit vorn. Warum das so ist und wie es weitergeht.
Noch vor ein paar Jahren war alles ganz einfach: Auf dem weltweiten Ziviljet-Markt hatte Airbus mit der A320-Familie die Nase bei den Kurz- und Mittelstreckenflugzeugen vorn. Im Langstreckenbereich dagegen war Boeing besser aufgestellt, wenn man von dem Nischenprodukt A380 einmal absah.
Seitdem hat sich vieles verändert. So wird das Airbus-Flaggschiff A380 inzwischen nicht mehr gebaut. Vor allem aber ist der US-Konkurrent nicht nur im Marktsegment für die kürzeren Routen nach zwei Abstürzen seines neuen Typs Boeing 737 Max noch weiter hinter den europäischen Hersteller zurückgefallen, die Amerikaner haben nun auch mit beiden Langstreckenmodellen (787 und 777) allergrößte Probleme.
Airbus liegt vorn: Boeing in Schwierigkeiten
Besonders bitter für Boeing ist, dass ausgerechnet die US-Flugsicherheitsbehörde FAA, zu der man traditionell sehr gute Beziehungen pflegte, jetzt zu den Schwierigkeiten des Konzerns beiträgt. Gravierende Qualitätsmängel in der Fertigung der 787 – unter anderem ließ man zu große Abstände beim Zusammenbau von Rumpfsektionen – zwangen Boeing im Mai 2021 zum Stopp der Auslieferungen.
Bis dahin hatten speziell dafür abgestellte Boeing-Mitarbeiter im Auftrag der FAA die Lufttüchtigkeit fabrikneuer Serienflugzeuge überprüft. „Offenbar ist es aber vorgekommen, dass Manager diese Prüfer unter Druck gesetzt haben“, sagt der Hamburger Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt: „Das ist ein absolutes No-Go.“
Hamburgs US-Rivale kann nicht an Lufthansa liefern
Wenn die Behörde die Wiederaufnahme der 787-Auslieferungen gestattet, will sie künftig jeden einzelnen Jet selbst auf mögliche Mängel untersuchen, bevor er an den Kunden übergeben werden kann – ein zeitraubendes Verfahren. „Dieser Beschluss ist eine Folge des Firmenkulturproblems, das sich bei Boeing in den vergangenen 15 Jahren eingeschlichen hat“, so Großbongardt.
Bei der Boeing 777, dem Spitzenmodell des US-Konzerns, sind die Schwierigkeiten etwas anders gelagert. Nachdem die Produktion des sehr erfolgreichen Langstreckenfliegers 777-300ER im Frühjahr 2021 endete, sollte der stark modifizierte Nachfolger 777X nach ursprünglichen Plänen bis heute schon längst den Liniendienst aufgenommen haben. Doch es kam bei der Entwicklung zu diversen Verzögerungen, aktuell rechnet man für 2025 mit dem Beginn der Auslieferungen an den Erstkunden Lufthansa.
Boeing-Abstürze sind ein Grund für die konzernweiten Probleme
Nach Einschätzung von Großbongardt ist die gravierende Terminüberschreitung unter anderem auf die beiden Abstürze von 737-Max-Jets im Oktober 2018 und März 2019 zurückzuführen. In beiden Fällen spielte eine Stabilisierungselektronik namens MCAS, die Boeing speziell für die neueste Version des Klassikers 737 entwickelt hatte, eine Rolle – und auch bei der Zulassung des MCAS-Systems hatte die FAA zu sehr auf Boeing vertraut.
Weil die 737 Max nach dem zweiten Absturz mit einem weltweiten Startverbot belegt wurde, das fast zwei Jahre lang Bestand hatte, musste der Herstellerkonzern einen großen Teil der Entwicklungs- und Managementkapazitäten darauf verwenden, das MCAS-Problem zu lösen. In dieser Zeit konnte man den neuen Langstreckenflieger 777X nur wenig voranbringen.
Wandel in der Firmenkultur bei Boeing
„Im Hinblick auf die Firmenkultur hat es bei Boeing nach strukturellen Änderungen einen Wandel gegeben“, sagt Großbongardt, „aber bis das Vertrauen vollständig wiederhergestellt ist, wird noch das eine oder andere Jahr vergehen.“ Wegen der lang andauernden Lieferstopps der beiden wirtschaftlich wichtigsten Boeing-Modelle 737 und 787 musste das Unternehmen für 2020 den mit umgerechnet 9,8 Milliarden Euro höchsten Verlust der mehr als 100 Jahre umfassenden Konzerngeschichte ausweisen. Im vorigen Jahr fiel ein Fehlbetrag von immerhin noch rund vier Milliarden Euro an.
Ganz anders sieht es bei Airbus aus. „Airbus steht im Augenblick auf der Sonnenseite“, sagt Großbongardt. In den drei zurückliegenden Jahren waren die Europäer, gemessen an den Auslieferungen, mit Abstand der größte Hersteller von Ziviljets. Zwar hat die durch das Coronavirus ausgelöste Branchenkrise auch bei ihnen Spuren hinterlassen. So musste die monatliche Produktion bei den Maschinen der A320-Familie, von denen gut die Hälfte in Hamburg entsteht, vorübergehend von zuvor rund 60 auf firmenweit 40 Flugzeuge gedrosselt werden.
Airbus fährt die Produktion wieder hoch
Doch schon seit dem vorigen Jahr fährt Airbus die Rate wieder hoch. Mitte 2023 soll sie bei 65 Jets pro Monat liegen – das sind mehr als je zuvor – und danach sogar weiter auf 75 steigen. Nachdem rund 1000 der 15.000 Beschäftigten, die Airbus Ende 2020 in Hamburg hatte, über Abfindungsangebote und Altersteilzeit freiwillig das Unternehmen verließen, werden nun wieder 1000 neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gesucht.
Boeing hingegen musste angesichts der hausgemachten Krisen viel härtere Einschnitte verkraften. Dort waren zuletzt 19.000 Menschen weniger beschäftigt als noch 2019 und die monatliche Fertigungsrate der 737 Max liegt erst wieder bei gerade einmal 31 Flugzeugen.
Airbus liegt derzeit in Führung
Allerdings zeigten sich auf der Luftfahrtmesse im britischen Farnborough in dieser Woche durchaus ermutigende Signale für Boeing: Delta Air Lines erteilte einen Großauftrag über nicht weniger als 100 Jets der 737-Max-Reihe und zwei Leasinggesellschaften orderten insgesamt 78 weitere Maschinen des Kurz- und Mittelstreckenfliegers von Boeing.
Trotzdem hat Airbus im bisherigen Jahresverlauf im Rennen um Neubestellungen mit Aufträgen für 563 Jets noch immer die Führung vor dem US-Konkurrenten, dessen Orderbuch um 369 Flugzeuge wuchs. Großbongardt erwartet, dass Airbus im Kurz- und Mittelstreckensegment auch auf längere Sicht mit einem Marktanteil von etwa 55 Prozent vorn bleiben wird, während sich Boeing wohl mit ungefähr 45 Prozent der Bestellungen begnügen müsse. Das Airbus-Familienkonzept, das es zum Beispiel einem A320-Piloten ermöglicht, nach einer relativ kurzen Zusatzschulung auch einen A350 zu fliegen, komme bei den Airlines gut an.
Airbus hat Lücken im Portfolio: Was der Experte prognostiziert
Aber nach Auffassung von Großbongardt haben beide Hersteller Lücken in ihrer Produktpalette, die sie in den nächsten Jahren schließen müssen. „Airbus braucht einen echten 787-Wettbewerber“, sagt der Branchenexperte. Der A350 sei zu groß dafür. Zwar hat der europäische Flugzeugbauer den A330 mit sparsameren Triebwerken zum A330neo modernisiert, aber er wird von den potenziellen Kunden offenbar nicht als wirklich konkurrenzfähiges Angebot angesehen und nur in kleiner Stückzahl gebaut.
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„Auf längere Sicht dürfte Boeing die Dominanz im Langstreckensektor wiedererlangen“, glaubt Großbongardt. Was der US-Konzern am dringendsten benötige, sei aber ein Flugzeug für die Mitte des Marktes – mit gut 200 Sitzen und einer Reichweite von 8000 bis 9000 Kilometern. Auf genau diesen Bedarf ziele Airbus mit dem A321XLR ab, der im Juni in Hamburg erstmals abhob: „Mit diesem Flugzeug hat Airbus für die nächsten Jahre eine Monopolstellung.“