Hamburg. Die Lieferketten sind bis zum Bersten gespannt. Der Krieg in der Ukraine und der Lockdown in China machen die Lage noch dramatischer.

Ein Wort macht Karriere, eine Karriere, auf die wir gern verzichtet hätten. Das kleine Wort lautet: Lieferkette. Inzwischen ist die neue Weltwirtschaftsunordnung in so vielen Bereichen unseres Alltags angekommen, dass es als Erklärung für alle auftretenden Probleme herhalten kann.

Egal, ob der Geschirrspüler später kommt, sich das iPhone verzögert oder die Badezimmerarmatur nicht geliefert werden kann, stets sind Störungen im Handelssystem verantwortlich. Jedes Unternehmen erklärt enttäuschende Zahlen mit Lieferengpässen. Angesichts von Materialmangel hat die deutsche Bauindustrie ihre Umsatzerwartungen für das laufende Jahr gerade auf bestenfalls null nach unten korrigiert.

Lieferengpässe: Alles wird knapp – und teuer

Aus dem gleichen Grund erlebt die Automobilindustrie einen schwarzen April – die Zahl der Neuzulassungen sank um mehr als 20 Prozent, die deutschen Brauereien befürchten in der warmen Jahreszeit einen Mangel an Bierflaschen; Küchen und Möbel werden knapp und teuer. Und wenn die Stadt Hamburg ihre ehrgeizigen Wohnungsbauziele um ein Drittel verfehlt, liegt das – Sie ahnen es - an „unterbrochenen Lieferketten“.

Die kleinen Mosaiksteine schaffen ein großes Bild – es ist kein schönes: Die Wirtschaftsweisen stutzten Ende März ihre Wachstumserwartungen für Deutschland von plus 4,6 auf 1,8 Prozent zurück. Und zuletzt senkte die EU-Kommission den Wert für die Bundesrepublik von 3,6 auf 1,6 Prozent. Der Hintergrund sind die Probleme im Welthandel. „Dämpfend wirken die Nachwehen der Corona-Krise, weil Lieferketten immer noch unter Stress stehen. Die Schockwellen durch den Krieg in der Ukraine belasten die Konjunktur sowohl angebots- wie nachfrageseitig“, erklärte Stefan Kooths, Vizepräsident und Konjunkturchef des Kiel Instituts für Weltwirtschaft.

Keine Aussicht auf schnelle Besserung

Da sollte auch der seit Monaten wachsende Auftragseingang im Verarbeitenden Gewerbe nicht täuschen, der zuletzt die Stimmung aufgehellt hatte. Die Zahlen steigen nicht, weil es so gut, sondern weil es so schlecht läuft. Viele Unternehmen haben „wegen gestörter Lieferketten nach wie vor Probleme beim Abarbeiten ihrer Aufträge“, erklärten die Statistiker das Plus von einem guten Fünftel im Vergleich zum Vorjahresmonat. Laut dem Ifo-Institut klagten im März 2022 gut 80 Prozent der befragten Industrieunternehmen über Engpässe und Probleme bei der Beschaffung von Vorprodukten und Rohstoffen.

„Die globalen Lieferketten und Warenströme sind aus dem Gleichgewicht geraten, und das wird leider auch noch länger so bleiben“, sagt Hans-Fabian Kruse dem Abendblatt. Der AGA-Präsident gibt ein anschauliches Beispiel. Der Außenhändler sagte: „Früher haben wir im Mai einen Auftrag für die Lieferung im Juli zu einem fixen Preis abgeschlossen und unsere weitere Planung darauf aufgebaut. Heute können wir gerade noch das Produkt für die Lieferung im 4. Quartal reservieren und zwei Wochen vorher dem dann gültigen Preis zustimmen oder zurücktreten.“ Das Beispiel verdeutlicht die doppelte Dimension der neuen weltwirtschaftlichen Unordnung. Die Preise steigen auf unabsehbare Weise, und die Lieferung steht in den Sternen.

Lieferengpässe: Folge des Ukraine-Kriegs

Was zu Beginn mit der Chipkrise anfing, hat sich auf viele Bereiche der Warenwelt ausgeweitet. Und Besserung ist vorerst nicht in Sicht. Der Ukraine-Krieg hat nicht nur alte Wahrheiten erschüttert, sondern auch neue Handelswege verschüttet. Der Sachverständigenrat fürchtet, dass durch den Krieg die „internationalen Lieferketten zusätzlich gestört werden und Steigerungen der ohnehin bereits hohen Preise für Energieträger wie Erdgas und Erdöl die Kaufkraft der Haushalte beeinträchtigen sowie zu Kostensteigerungen für Unternehmen führen“.

Zudem belastet der Dauerlockdown in China den Warenaustausch. Für die exportorientierte deutsche Wirtschaft war das Reich der Mitte in der Vergangenheit oft der Rettungsanker in schwerer See. Jetzt aber ziehen dort dunkle Wolken auf.

40 Prozent weniger Exporte aus Chinas Hafen

Da die KP in China starrsinnig an ihrem gescheiterten Zero-Covid-Konzept festhält, dürfte sich eine rasche Besserung vorerst nicht einstellen, auch wenn angesichts sinkender Corona-Fallzahlen erste Lockerungen anstehen. Das Exportvolumen des größten Welthafens ist Schätzungen zufolge um rund 40 Prozent gesunken. Unternehmen klagen, dass sie seit Wochen ihre Waren nicht mehr aus dem Land bekommen. Alternative Lieferrouten über andere Häfen reichen nicht aus, um den Ausfall abzufedern. Und auch da bremst die chinesische Corona-Politik: Wegen der strengen Maßnahmen, die den meist selbstständigen Lastwagenfahrern das Leben schwer machen, ist der Warentransport massiv beeinträchtigt.

„Am beunruhigendsten ist die Situation in Shanghai“, sagt Tim Scharwath, der Chef der Frachtsparte der Deutschen Post. Die entscheidende Frage sei, wie die Millionen-Metropole wieder geöffnet werde. Ifo-Konjunkturexperte Timo Wollmershäuser fürchtet hierzulande sogar eine Verschärfung der Lieferengpässe, „vor allem als Folge der rigorosen Lockdowns in China, von wo Deutschland zuletzt 15 Prozent seiner importierten Vorprodukte bezog.“

Normalisierung wird Wochen dauern

Die aktuellen Probleme dürften erst jetzt voll auf Deutschland durchschlagen: Güter aus Fernost sind bis Hamburg 30 bis 40 Tage unterwegs – nun verschärft sich das Problem, wenn die bestellten Waren nicht bei den Endabnehmern etwa in der Automobilindustrie oder im Maschinenbau eintreffen. Und selbst wenn Shanghai sich aus dem Lockdown löst, werden die Staus kurzfristig eher noch länger als kürzer – weil eben viele Schiffe auf einmal losfahren. „Für die Weltwirtschaft wäre es besser, wenn die Öffnung langsam vollzogen wird“, sagt Scharwath. „Die Abläufe, der Fluss, das muss alles erst wieder entstehen.“ Eine Wunderheilung ist nicht zu erwarten.

„Auch nach Aufhebung des Lockdowns wird die Normalisierung Wochen benötigen“, sagt Kruse vom AGA. „Die Fahrpläne der Reedereien bleiben durcheinander- gewürfelt. Die Transitzeiten verlängern sich, leere Container sind Mangelware, und Frachtraten steigen.“

Lieferengpässe dauern das ganze Jahr

Shanghai ist nur das augenfälligste Beispiel für die Verwerfungen. 70 Prozent der Fernläufe sind verspätet – weltweit. Ob im kanadischen Vancouver oder in Los Angeles, vor Hongkong oder Helgoland warten Containerschiffe mitunter wochenlang auf einen Liegeplatz im Hafen.

„Die Situation verschärft sich noch und wird das ganze Jahr andauern“, fürchtet Gunther Bonz, Präsident der FEPORT in Brüssel und des Unternehmensverbandes Hafen Hamburg. Er sieht im Gespräch mit dem Abendblatt gleich mehrere Gründe für die Krise. „Das liegt zum einen am Lockdown in China, zum anderen aber auch am Geschäftsmodell der Linienreeder. Sie transportieren die Container erst, wenn das Schiff randvoll ist“, kritisiert er.

Für Firmen rächt sich nun das Outsourcen

Eine Mitverantwortung für die komplizierte Lage hätten auch die Unternehmen, die voll auf das just-in-time-Konzept gesetzt hätten. „Der Container ist in den vergangenen Jahren zur Lagerhalle geworden“, sagt Bonz. Eine Lieferung für die Automobilindustrie werde heute direkt vom Lkw an die Laufbänder gebracht. „Die gesamte Anlieferung einschließlich Einschleusung ist outgesourct. Das rächt sich jetzt. Solange die Lieferketten funktionieren, mag das hochprofitabel sein. Nun aber stehen diese Unternehmen vor einem massiven Problem.“

Der Krieg verschärft die Krise – dabei geht es noch nicht einmal um die abrupt unterbrochenen Geschäftsbeziehungen gen Osten oder die Angst vor einem Gasembargo, sondern um alltägliche Hindernisse, die der fürchterliche Waffengang mit sich bringt. Frachtflieger etwa dürfen Russland nicht mehr passieren und müssen Umwege in Kauf nehmen, brauchen mehr Kerosin und können weniger transportieren.

Lieferengpässe treiben die Preise

Die transsibirische Eisenbahn fällt inzwischen weitgehend aus, die Lkw-Branche vermisst ukrainische und weißrussische Fernfahrer. Das treibt die Preise weiter. „Meine Firma importiert seit Jahrzehnten einen Rohstoff für die Glasindustrie. Der Warenwert pro Container liegt bei 5000 Dollar, die Fracht bei 1000 Dollar“, erzählt ein Unternehmer. „Jetzt kostet die Fracht 10.000 Dollar, und die meisten Kunden haben storniert.“ Überall berichten Händler von einer Verzehn-, ja Verfünfzehnfachung der Frachtkosten.

Die Weltlage spielt den Reedern in die Hände. Nach einem Jahrzehnt voller Verluste verdienen sie so gut wie nie. Das Hamburger Unternehmen Hapag Lloyd, an dem die Stadt mit 13,9 Prozent beteiligt ist, könnte mit einem erwarteten Betriebsergebnis vor Zinsen und Steuern von 11,7 bis 13,6 Milliarden Euro eines der gewinnstärksten deutschen Unternehmen werden, noch vor Siemens, Bayer, BASF oder SAP. Und das bei einem erwarteten Gesamtumsatz von geschätzten 28 Milliarden Euro.

Die Reeder sind die Gewinner in einer Lage, die sonst nur Verlierer hinterlässt. Das Chaos auf den Warenmärkten wirkt sich bis in die kleinsten Verästelungen aus. Wenn nur einer ausfällt, reißt er viele mit, eine Verspätung kann Dutzende Firmen in der Wertschöpfungskette treffen. Zwar gibt es die Waren am Weltmarkt, aber sie sind viel schwieriger zu beschaffen, und man muss inzwischen oft Monate im Voraus planen und höhere Preise bezahlen.

Kruse kritisiert: „Die Servicequalität der Reeder ist so schlecht wie nie.“ Einen in Hamburg erwarteten Container setzt die Reederei kurzfristig in Wilhelmshaven ab. „Auf den Mehrkosten bleibt man sitzen – einerseits für den Weitertransport, andererseits weil die Ware nicht pünktlich dort übergeben werden kann, wo sie eingeplant war.“ Dabei geht es nicht um Einzelfälle: „Früher wurden rund 75 Prozent der Container ohne Beanstandung geliefert, jetzt sind es nur noch 30 Prozent.“

Forderung nach größerer Unabhängigkeit

Logistikexperte Bonz hält mehrere Schritte für nötig, das System wieder ins Lot zu bringen. Zunächst will er bei den Reedereien ansetzen, die derzeit Rekordgewinne erzielen: „Der politische Druck muss wachsen. Es kann beispielsweise nicht sein, dass die Reeder Leercontainer einfach stehen lassen. Die USA machen es mit ersten Kartellstrafen vor.“ Bonz betont, bevor es in Europa zu vergleichbaren Sanktionen komme, sollten alle Beteiligten an den Tisch, um das Problem im Einvernehmen zu lösen.

Zur Sicherung der Lieferketten müssten mehr Schlüsseltechnologien in Vorprodukten heimatnah produziert werden. „Der Ukraine-Krieg hat gezeigt, wie fatal die Abhängigkeiten etwa beim Gas aus Russland sind. Diese Abhängigkeiten mit unsicheren Ländern müssen zurückgefahren werden – das gilt für pharmazeutische Produkte aus Indien ebenso wie für Chips aus China.

Erwarteter Inflationsschub

Selbst wenn sich die Staus irgendwann auflösen und die Waren wieder besser fließen, steht ein neues Problem ins Haus. Viele Preise und Verträge sind vor Monaten ausgehandelt und abgesichert worden – die Preise dürften bald steigen. „Im kommenden Jahr kommt der richtige Inflationsschub“, warnt Bonz. Vielleicht werden die Wirtschaftsweisen schon bald weitere Korrekturen vornehmen – dieses Mal in die andere Richtung: Noch erwarten sie Inflationsraten von „nur“ 6,1 Prozent für das laufende Jahr und 3,4 Prozent für 2023.

Bonz jedenfalls ist sich sicher, dass die Besserung noch etwas länger auf sich warten lässt: „Eine neue Logistikstruktur wird zwei Jahre benötigen, die Effekte 2024 werden wir erst 2024 sehen. Wir gehen jetzt durch ein Tal der Tränen.“