Hamburg. Christian von Boetticher, Chef der Deutschen Ernährungsindustrie, sieht eine anhaltende Lebensmittelknappheit. Was er fordert.

Viele Verbraucher stehen im Laden vor dem Sonnenblumenöl und können es nicht fassen: Die Flasche knackt beim Preis immer öfter die Marke von 5 Euro. Manche Supermärkte begrenzen die Abgabemenge für die Bratfette sogar. Auch die Getreidepreise erreichen Rekordwerte. Bei Weizenmehl häufen sich die Fälle, dass Kunden vor leeren Regalen stehen. Schon anfangs der Pandemie waren viele Produkte ausverkauft, nun wiederholt sich diese Lage im Lebensmittelhandel.

Christian von Boetticher, Vorsitzender der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie e. V. (BVE), erklärt die Aussichten für die Verbraucher. Der 51-Jährige ist auch Geschäftsführer der Elmshorner Firma Peter Kölln, die neben den bekannten Haferflocken und Müslis auch Marken wie Mazola, Biskin und Palmin anbietet – und damit selbst unter dem weltweiten Mangel an Speiseölen leidet. Im Interview mit dem Abendblatt appelliert der ehemalige Landwirtschaftsminister von Schleswig-Holstein aber auch an die Politik, dass Deutschland sich unabhängiger machen muss von Importen.

Herr von Boetticher, wie ist es zu den Engpässen gekommen?

Von Boetticher Schon vergangenes Jahr haben die USA und Kanada Missernten bei Weizen und Hafer erlebt. Beide Länder haben in der Folge Rohware gekauft, hauptsächlich in Europa, weil die Handelsbeziehungen zu China gestört waren. Bereits im Herbst 2021 sind daher die Rohstoffpreise durch die Decke gegangen.

Sie erleben das besonders beim Hafer?

Ja, während die Tonne sonst 220 bis 240 Euro kostete, schoss der Preis schon vor Ausbruch des Ukraine-Kriegs auf 350 Euro. Dies war auch Folge der gestörten Transportwege während der Pandemie.

Und das war noch nicht der Rekord?

Ja. Inzwischen kostet die Tonne Hafer mehr als 400 Euro. Auch Roggen geht durch die Decke.

Wie sind die Zusammenhänge?

Die Ukraine fällt als Lieferant von Weizen aus, das sind immerhin acht Prozent des weltweiten Exportmarktes. Zusammen mit dem Boykott von russischem Weizen sprechen wir sogar von 28 Prozent, die als Menge fehlen. Dadurch steigt auch der Wert anderer Getreide. Und selbst wenn noch geerntet wird: Die Ukrainer bekommen die Ware nicht weg. Hier wird traditionell fast alles über das Schwarze Meer verschifft. Doch die zen­tralen Häfen für Rohstoffe haben die Russen angegriffen. Damit haben sie die Ukraine auch als Partner für den Weltmarkt ausgeschaltet. Die Ware hängt in Odessa fest. Das gilt auch für Ölsaaten. Immerhin kommen knapp 60 Prozent des Sonnenblumenöls weltweit aus Russland und der Ukraine. Daher ist hier die Verfügbarkeit ernstlich eingeschränkt. Eine solche Mangelsituation hatten wir seit den Jahren des Wirtschaftswunders nicht mehr.

Die Preise sind bereits hoch, die Kunden im Supermarkt erleben immer neue Rekorde. Wie ist die Perspektive?

Das Sonnenblumenöl für 5 Euro wird zunächst bleiben. Es ist auch einfach nicht für jeden Verbraucher verfügbar. Eine Entspannung der Preise sehe ich frühestens im nächsten Jahr, das hängt allerdings wiederum von den Ernten ab. Diesen Mangel spürt ja auch nicht nur der Verbraucher, sondern auch die Industrie.

Beispiele?

Sonnenblumenöl ist Bestandteil von Mayonnaise, Margarine oder auch in Salatsoßen und Schokoglasuren. Dazu kommt: Viele Hersteller setzen heute Sonnenblumenöl statt Palmöl ein, dadurch ist die Nachfrage noch einmal gestiegen. Letzteres ist wegen Raubbaus an der Natur in die Kritik geraten.

Es wird Regenwald für Monokulturen abgeholzt, ein Problem bei Palmöl.

Ja, inzwischen gibt es allerdings zertifizierte Ware aus nachhaltigem Anbau. Im Austausch gibt es aber Beschränkungen. So kann man Sonnenblumenöl nicht durch Olivenöl ersetzen, weil es weder geschmacksneutral noch in der Menge verfügbar ist. Grundsätzlich haben wir das Problem, dass wir nur einen geringen Grad an Eigenversorgung erreichen.

Wo sind wir besonders abhängig?

Bei Ölen aus Raps, Oliven, Maiskeimen oder Sonnenblumen decken wir in Deutschland nur gut ein Viertel unseres Bedarfs selbst. Bei Obst sogar nur ein Fünftel, bei Gemüse gut ein Drittel, der Rest wird importiert. Beim Hafer erreichen wir knapp die Hälfte der hier verbrauchten Ware.

Und wo sind wir selbst Exporteure?

Relativ ausgeglichen ist die Situation beim Fleisch. Bei Rind und Geflügel erreichen wir eine Selbstversorgung von 90 Prozent, bei Schweinen von 130 Prozent. Weizen liefern wir ebenfalls an das Ausland. Bisher war das Schöne an der Weltwirtschaft, dass sich alles ausgeglichen hat. Doch nun hatten wir erst die Missernten und jetzt mit Russland und der Ukraine den Ausfall großer Produzenten. Für uns ist es nun wichtig, dass die Märkte offen sind. Wir hätten mehr Freihandelsabkommen unterzeichnen müssen.

Was wäre die Folge?

Die EU-Importzölle fielen weg. Wenn wir heute beispielsweise Hafer aus Australien importierten, fielen 89 Euro Zoll pro Tonne an.

Können wir selbst mehr produzieren?

Ja, und das sollten wir auch. Viele Agrarrohstoffe werden fast nur auf der Nordhalbkugel angebaut, wie 90 Prozent des Weizens oder 85 Prozent des Hafers. Von diesem Agrargürtel müssen wir jetzt Russland und die Ukraine rausrechnen und, wenn es nach dem neuen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz geht, im Grunde auch China als größtes weltweites Erzeugerland. Dann aber müssen wir jetzt unsere Spielregeln ändern.

Inwiefern?

Immer, wenn ich unseren Landwirtschaftsminister Cem Özdemir treffe, stelle ich fest, dass ihm der Katar-Moment von Robert Habeck fehlt. So ist es zwar völlig richtig, die Landwirtschaft in Deutschland nachhaltiger und klimaneutral gestalten zu wollen. Aber in Zeiten einer Rohstoffkrise mit hohen Preisen ist es unverständlich, dafür ertragreiche Böden aus der Produktion zu nehmen oder die Produktion einzuschränken. Ziel ist bisher, vier Prozent der
Agrarflächen nicht mehr und weitere 20 Prozent nur noch mit Einschränkungen zu bewirtschaften. Doch ist das richtig, wenn der Weizen auf der Welt für den armen Süden gerade unbezahlbar wird? Klimaziele auf dem Rücken der Ärmsten zu erreichen, ist nicht nachhaltig. Hier müssen wir temporär von unseren Fahrplänen abweichen.

Ein Treiber der Preiswelle ist auch der Anstieg der Erdölpreise und der Kraftstoffverbrauch: Dadurch wurde die Nachfrage nach Biosprit angeheizt und das Angebot von Mais und Soja verknappt, weil mehr an die Ethanolwirtschaft verkauft wurde.

Ja, in den USA gibt es bereits ein Umdenken beim Thema Tank oder Teller. Nutzen auch wir das Rapsöl weiterhin als Treibstoff? Auch bei diesem Thema dürfen wir uns den Klimaerfolg nicht erarbeiten auf dem Rücken der Ärmsten. Dazu ist auch zu überdenken, ob Äcker zu Solarflächen umgewandelt werden.

Welche höheren Kosten oder Engpässe spüren Sie noch?

Durch die steigenden Energiepreise sind Dritte betroffen. Die Glashütten gehören zu den energieintensivsten Produktionsbetrieben. Einige überlegen schon, ob sich ihr Geschäft noch lohnt. Jedenfalls werden dadurch die Glasflaschen und -behälter teurer. Auch bei Klebstoffen die wir für die Packungen brauchen, kommt es immer wieder zu Ausfällen.

Die Lage in die Industrie und in den Geschäften ist unübersichtlich, jeden Tag gibt es Meldungen über Engpässe. Doch manche Kunden fragen sich, ob die steigenden Preise immer gerechtfertigt sind?

Ja, es gibt auch Trittbrettfahrer. Das kann man nicht ausschließen. Weder bei den Produzenten noch im Handel. Andererseits sind Markenhersteller auch nicht erpicht darauf, die Preise stark zu erhöhen. Wenn der Verbraucher sagt, dieses Markenprodukt ist mir jetzt zu teuer, wechselt er vielleicht zu einer billigen Handelsware. Es erhöht sich also die Gefahr, dass die Kunden abwandern.

Viele Kunden bevorraten sich derzeit. Es gibt Hamsterkäufe wie zu Beginn der Pandemie, nur jetzt nicht mehr bei Toilettenpapier, sondern bei Lebensmitteln.

Panikkäufe bringen aber nichts. Einen Vorteil sichert sich auf dem Niveau jetzt niemand mehr. Grundsätzlich wird es in Deutschland wohl keine Ausfälle bei Lebensmitteln geben. Es ist eine Frage der Preise – und diese bleiben wahrscheinlich bis zum nächsten Jahr so hoch. Man kann frühestens im Spätsommer absehen, kurz vor der Ernte, ob sich die Lage entschärfen wird. Aber ein Preisgefüge wie vor dem Ukraine-Krieg werden wir nicht so schnell wieder erleben.