Berlin. Der frühere Wirecard-Manager Jan Marsalek gilt als Kopf des Skandals. Nun führt eine Spur nach Russland. Was wusste die Regierung?
Es gibt die zwei Leben des Jan Marsalek. Das eine ist das des erfolgreichen Karrieristen, der es vom Schulabbrecher zum Vorstand des einst wertvollsten Finanzunternehmens Deutschlands brachte. Es ist ein Leben, das von harter Arbeit geprägt war, von ständigen Reisen, aber auch von den Vorzügen. Von Jahresgehältern von fast drei Millionen Euro, von wilden Partys, Kreditkarten aus Gold, der Villa in München.
Das andere aber ist ein Leben voller Geheimnisse. Es ist ein Leben, das tief in die Welt der Geheimdienste reicht, das angetrieben von krimineller Energie ein Werk ersann, mit dem Geschäftspartner, Anleger und Strafbehörden in die Irre geführt wurden. Jan Marsalek gilt als Kopf hinter dem größten Wirtschaftsskandal der deutschen Nachkriegszeit – und einem unvorstellbaren Wirtschaftskrimi.
Jan Marsalek gilt als Kopf hinter dem Wirecard-Skandal
Fast zwei Jahre sind seit dem Sturz der Wirecard AG, einem auf Zahlungsdienstleistungen spezialisierten Fintech aus dem Münchener Vorort Aschheim, vergangen. Über Jahre hinweg hatte Wirecard Umsätze erfunden und so seine Bilanz manipuliert. Am Ende hatte der so entstandene Scheinriese sogar den Plan, die Deutsche Bank zu übernehmen, weil man an der Börse längst mehr wert war. So weit kam es nicht.
Stattdessen brach das Kartenhaus im Juni 2020 in sich zusammen. Der frühere Wirecard-Chef Markus Braun sitzt seitdem in der Justizvollzugsanstalt Gablingen, ihm soll bald zusammen mit dem früheren Wirecard-Chefbuchhalter Stephan Freiherr von E. sowie dem früheren Wirecard-Statthalter in Dubai und Kronzeugen, Oliver B., dem Prozess gemacht werden.
Die Staatsanwaltschaft München I wirft dem Trio unter anderem „gewerbsmäßigen Bandenbetrug“ vor. Braun aber weist sämtliche Vorwürfe zurück, er will von nichts gewusst haben. Die Schuld suchen sie bei Marsalek. Die Staatsanwaltschaft hätte den heute 42-Jährigen zweifelsohne ebenfalls gerne auf der Anklagebank gesehen. Nur fehlt von ihm jede Spur. Oder doch nicht? Lesen Sie hier: Bargeld in Tüten: Wie Wirecard-Manager Marsalek arbeitete
Bundesnachrichtendienst soll Kanzleramt informiert haben
Im Juni 2020 verwehrt der Wirtschaftsprüfer Wirecard das Testat für den Jahresabschluss. Der Börsenkurs stürzt ab, das Unternehmen ist erledigt, Gläubiger und Anleger um Milliarden geprellt. Als Verantwortlichen präsentiert der Wirecard-Vorstand Jan Marsalek und feuert ihn.
Während sich Markus Braun später der Staatsanwaltschaft selbst stellt, setzt Marsalek zu einer spektakulären Flucht an. Er wolle den Fall aufklären, teilt er Kollegen mit, und dafür auf die Philippinen reisen. Es gab auch Einreisedokumente – Fälschungen. Marsalek hatte eine falsche Fährte gelegt. Stattdessen flüchtete er wohl nach Österreich, bestieg eine Cessna und flog davon. Lesen Sie hier: Wirecard: Wie die Welt den Drahtzieher des Skandals jagt
Russischer Geheimdienst soll BND informiert haben
Schon früh hatte das „Handelsblatt“ berichtet, dass es für den einsteigen Top-Manager über Minsk weiter nach Moskau ging, wo er unter Geheimdienstaufsicht stehen sollte. Nun verhärtet sich der Verdacht. Doch nicht nur das. Laut „Bild“-Zeitung soll der russische Geheimdienst FSB dem deutschen Bundesnachrichtendienst (BND) angeboten haben, Marsalek zu treffen zu befragen.
Die Anfrage aber blieb laut des Berichts unbeantwortet. Stattdessen sei das Bundeskanzleramt informiert worden – anschließend herrschte wieder Funkstille.
Auch Merkel und Scholz mussten vor dem Untersuchungsausschuss aussagen
Während Marsalek in Russland laut des Berichts ominöse Geschäfte betrieben haben soll – unter anderem im Handel mit dem russischen Corona-Impfstoff Sputnik V – war in Deutschland die Politik um die Aufklärung des Falls bemüht. Ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss untersuchte die Vorgänge. Eine Standardfrage an die Zeugen: Wissen Sie, wo sich Jan Marsalek aufhält.
Unter den Befragten waren auch BND-Präsident Bruno Kahler sowie Vertreter des Bundeskanzleramtes, sogar die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und auch ihr Nachfolger und damaliger Finanzminister Olaf Scholz (SPD) mussten aussagen. Von Marsaleks Aufenthaltsort wollte aber niemand etwas gehört haben. Wie kann das sein, wo doch das Kanzleramt Informationen gehabt haben soll?
SPD-Politiker Zimmermann sieht Versäumnisse beim BND
„Das Vorgehen des Kanzleramtes ist inakzeptabel. Jetzt steht der Verdacht im Raum, dass irgendjemand nicht wollte, dass diese Gespräche stattfinden. Das öffnet jedem Verschwörungstheoretiker die Türen“, schimpft Jens Zimmermann, der Obmann für die SPD im Wirecard-Untersuchungsausschuss gewesen ist.
Es könne Gründe geben, dass man einer Spur nicht folgt, etwa weil diese nicht seriös erscheint. „Dann muss man im Zuge der Aufarbeitung aber transparent darlegen, dass es den Kontakt gab“, sagt Zimmermann im Gespräch mit unserer Redaktion. Er sieht große Versäumnisse beim BND: „Wenn Moskau fragt, was man mit Marsalek tun soll, dann ist die schlechteste aller Möglichkeiten, einfach gar nicht darauf zu antworten. Man hätte die Staatsanwaltschaft informieren können oder das BKA.“
Auch beim heutigen Koalitionspartner, den Grünen, ist man pikiert. „Die Frage muss nicht mehr lauten: Wo ist Jan Marsalek? Sondern: Warum ist er immer noch nicht in Deutschland, um sich vor der Justiz zu verantworten“, sagte Lisa Paus, ehemalige Obfrau des Ausschusses. Es müsse geprüft werden, wie viel man bei Merkel im Kanzleramt gewusst habe. Lesen Sie hier: Ex-Wirecard-Manager: "Das könnte Marsaleks Schwäche werden“
De Masi sieht Verstrickungen bei den Geheimdiensten
Eine Theorie, warum sich Marsalek nicht wieder in Deutschland befindet, hat Fabio De Masi. Der frühere Bundestagsabgeordnete der Linken gilt als einer der hartnäckigsten Aufklärer des Falls. Zusammen mit FDP-Politiker Florian Toncar und Grünen-Politiker Danyal Bayaz bildete er das Trio der sogenannten „Wirecard-Boys“, die in stundenlangen Nachtsitzungen die Zeugen löcherten.
Toncar ist mittlerweile zum Staatssekretär unter Finanzminister Christian Lindner (FDP) aufgestiegen, Bayaz ist Finanzminister des Landes Baden-Württemberg geworden. De Masi dagegen ist aus dem Bundestag ausgeschieden, seit Dezember arbeitet der ehrenamtlich für die Bürgerbewegung Finanzwende.
Der Fall Wirecard aber lässt ihn nicht los. Und er hält die Suche der Behörden nach Marsalek für oberflächlich. „In Deutschland käme es einigen zupass, wenn Marsalek nicht zurück nach Deutschland kehren würde. Viele Geheimdienstler waren froh, als er weg war“, sagt De Masi im Gespräch mit unserer Redaktion.
Viele Geheimdienste hätten mit Marsalek und Wirecard gearbeitet, um kriminelle Zahlungsflüsse etwa im Bereich Online Glücksspiel zu überwachen und Gelder für eigene Operationen durchzuschleusen. Eine alte Garde ehemaliger Geheimdienst-Mitarbeiter habe wohl versucht, mit der Zusammenarbeit mit Marsalek die Kontrolle zu behalten.
Marsalek soll die Formel zum Nervengift Nowitschok besessen haben
Die Kontrolle zu behalten schien bei einem Mann wie Marsalek aber ohnehin schwierig. 2017 soll Marsalek mit russischer Unterstützung in eine Ruinenstadt nach Syrien gereist sein, die kurz zuvor vom Islamischen Staat (IS) befreit wurde. Anschließend soll er versucht haben, in Libyen 15.000 Söldner anzuheuern, um die Grenze für Flüchtlinge zu schließen.
Wiederum nur kurze Zeit später – Wirecard war unter Druck geraten – soll Marsalek laut „Financial Times“ vor Investoren in London ein Papier präsentiert haben, auf dem die Geheimformel für das Nervengift Nowitschok stand – mit dem im selben Jahr der russische Doppelagent Sergej Skripal und seine Tochter vergiftet worden waren. „Als er mit der Formel für Nowitschok herumfuchtelte, wollte er zeigen, dass er bereit ist, mit den Russen zusammenzuarbeiten, wenn ihm sonst niemand hilft“, mutmaßt De Masi. „Er wird darauf vertraut haben, dass er in Russland geschützt wird. Nur dürfte er nicht damit gerechnet haben, dass Russland dem BND anbietet, ihn zu verhören, als er für sie nicht mehr von Nöten gewesen ist.“
De Masi fordert neuen Untersuchungsausschuss
In Deutschland bringt das einige in eine missliche Lage. Wieder stellt sich die Frage, was Angela Merkel, Olaf Scholz und Co. wussten. Seitens der Bundesregierung heißt es dazu, dass man sich zu geheimdienstlichen Informationen nicht öffentlich äußern dürfe. Selbiges teilte auch das Büro von Merkels früherem Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) unserer Redaktion mit.
Licht ins Dunkel könnte ein erneuter Untersuchungsausschuss bringen, schlägt De Masi vor. Nur wer hat daran ein Interesse? SPD und Union rieben sich schon im vorherigen Ausschuss darin auf, sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe zu schieben. Grüne und FDP regieren nun selbst unter Kanzler Scholz mit, die Linke hat nach De Masis Abgang ihren Chefaufklärer in der Sache verloren.
De Masi: Russland könnte Deutschland in eine Zwickmühle manövrieren
So hängt es nun wohl auch davon ab, was Russland machen wird. „Wenn Marsalek bei den Russen ist, dann ergibt sich ein Erpressungspotenzial“, sagt De Masi. Russland könne Erkenntnisse über deutsche Geheimdienste nutzen. „Man stelle sich mal vor, was in Deutschland los wäre, würde Putin Marsalek präsentieren.“
Dann müsste Deutschland einen Auslieferungsantrag stellen, Russland würde Bedingungen stellen – ein Nebenschauplatz im Sanktionspoker rund um den Ukraine-Krieg. „Gerade in der jetzigen Situation kann Russland Deutschland so in eine Zwickmühle manövrieren“, warnt De Masi.