Berlin. Ende 2022 sollten 575 Dienstleistungen in Verwaltungen online verfügbar sein. Das wird wohl nichts: Nur Bruchteil davon ist umgesetzt.

Das Auto online anmelden statt in der weit entfernten Zulassungsstelle, das geht zum Beispiel im Landkreis Uckermark in Brandenburg. Die Geburtsurkunde können Eltern für ihr Neugeborenes etwa in Bremen und Köln auf dem digitalen Weg anfordern. Bafög via Internet beantragen – unter anderem in Sachsen ist das bereits möglich.

Bei immer mehr Anliegen können sich Bürgerinnen und Bürger den Behördengang sparen. Doch neue Zahlen zeigen: Die Digitalisierung der Amtsstuben läuft nur im Schneckentempo – und längst nicht in allen Bundesländern gleich schnell.

Behördengänge per Smartphone – in Deutschland selten möglich

Behördengänge mit dem Smartphone vom Sofa aus erledigen: Was in anderen europäischen Ländern wie Dänemark und Estland selbstverständlich ist, ist im Deutschland des Jahres 2021 nur in wenigen Fällen möglich. Dabei wollte die scheidende Bundesregierung bis Ende 2022 insgesamt 575 Verwaltungsdienstleistungen für Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen online verfügbar machen. So steht es im Onlinezugangsgesetz.

Wie sehr die digitale Republik hinterherhinkt, zeigt eine Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage des FDP-Politikers Torsten Herbst, die unserer Redaktion vorliegt. Demnach waren zum 30. September erst 84 der geplanten 575 Dienstleistungen in allen Gemeinden verfügbar. „Deutschland ist auch im Jahr 2021 noch in weiten Teilen ein digitales Entwicklungsland“, sagt Herbst.

Die Pandemie hat gezeigt: Es gibt großen Nachholbedarf

Der FDP-Obmann im Bundestagsausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur mahnt Aufholbedarf an. Die Corona-Pandemie mit zeitweise geschlossenen Ämtern zeige, „wie viel Zeit, Geld und Nerven die Mitarbeiter in den Verwaltungen und die Bürger sparen könnten, wenn auch der Staat endlich serviceorientierter und digitaler arbeiten würde“.

Herbst: „Egal ob bei der digitalen Infrastruktur oder bei der Digitalisierung von Verwaltungsdienstleistungen, die neue Bundesregierung muss nun im Eiltempo das nachholen, was seit Jahren verschlafen wurde.“

Auch die Wirtschaft macht Druck

Die Zeit drängt. In diesem Jahr sind bis Ende September nur 34 Behördenleistungen in mindestens einer Gemeinde zusätzlich online verfügbar gemacht worden: Alleinerziehende können jetzt den Unterhaltsvorschuss übers Internet beantragen, auch eine Rentenauskunft gibt es seit 2021 digital. Unternehmen können anzeigepflichtige Personalveränderungen online melden und die umweltrechtliche Genehmigung von neuen Anlagen am Computer erledigen.

Auch die Wirtschaft macht bei der Digitalisierung Druck. „Abbau von Bürokratie und Digitalisierung sind laut einer Umfrage unter unseren Mitgliedern die drängendsten Themen der neuen Legislaturperiode“, sagt Markus Jerger, Bundesgeschäftsführer des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft. „Das zeigt im Umkehrschluss, wo der Mittelstand die größten Versäumnisse der scheidenden Bundesregierung sieht.“

Der Mittelstand kritisiert unklare Zuständigkeiten

So bestehe etwa im Lebensmittelbereich eine Pflicht zur handschriftlichen Protokollierung von Daten, selbst wenn sie digital vorliegen. Viele Verwaltungsvorgänge erforderten weiter die Schriftform und sind damit nicht digital möglich, zudem könnten Behörden ihre Daten oft nicht untereinander austauschen.

Jerger bemängelt, dass zu viele Ministerien für die Digitalisierung zuständig seien. „Die Antwort darauf muss die Bündelung der Zuständigkeiten unter einem Dach sein, beispielsweise in einem Bundesministerium für digitale Transformation, Innovation und Forschung“, fordert der Verbandschef. Bleibe es bei dem Kompetenzen-Chaos, „ist der Digitalisierungsfahrplan der Bundesregierung zum Scheitern verurteilt“. Lesen Sie mehr:Ampel-Koalition: Diese Forderungen stellt der Mittelstand

Bringen sie den „digitalen Aufbruch“, wie sie versprechen? Die möglichen Ampel-Koalitionäre Annalena Baerbock (Grüne), Olaf Scholz (SPD, M.) und Christian Lindner (FDP) wollen die Verwaltung „agiler und digitaler“ machen.
Bringen sie den „digitalen Aufbruch“, wie sie versprechen? Die möglichen Ampel-Koalitionäre Annalena Baerbock (Grüne), Olaf Scholz (SPD, M.) und Christian Lindner (FDP) wollen die Verwaltung „agiler und digitaler“ machen. © Getty Images | Jens Schlueter

Die Industrie beklagt, der Politik fehle der klare Fokus

Beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) beklagt Iris Plöger, in der Hauptgeschäftsführung für Digitalisierung zuständig, „die digitale Transformation der öffentlichen Verwaltung erfährt von der Politik noch immer nicht die notwendige Aufmerksamkeit“.

Zwar habe die Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes zuletzt an Fahrt aufgenommen, doch sie falle deutlich hinter die Erwartungen von Wirtschaft und Gesellschaft zurück, sagt Plöger. „Die Wirtschaft ist – ebenso wie die Bürgerinnen und Bürger – auf eine öffentliche Verwaltung angewiesen, die kooperativ, nutzerfreundlich, agil und digital agiert.“

Gelingt mit der Ampel-Koalition der „digitale Aufbruch“?

Wird mit der nächsten Bundesregierung alles anders? Im Sondierungspapier der möglichen KoalitionspartnerSPD, Grüne und FDP steht ein „digitaler Aufbruch“ an erster Stelle. Laut dem Papier soll die Verwaltung „agiler und digitaler“ werden. „Wir werden sie konsequent von der Bürgerin und dem Bürger her denken. Digitale Anwendungen werden jeweils mitgedacht und realisiert. Dazu wollen wir Gesetze einem Digitalisierungscheck unterziehen“, heißt es. Lesen Sie auch:SPD, Grüne, FDP: Diese Politiker verhandeln die Ampel

Unterdessen ist das Interesse der Bürgerinnen und Bürger an den Online-Behördendiensten noch übersichtlich. Im Oktober hatten genau 69.730 Menschen ein Nutzerkonto für digitalisierte Verwaltungsdienstleistungen des Bundes. Später einmal soll dieses Konto dazu dienen, dass sich Bürgerinnen und Bürger im Internet auch gegenüber Bundesländern und Kommunen ausweisen können.

Nötig dafür ist ein Personalausweis mit freigeschalteter Online-Funktion – das ist bei allen seit Mitte 2017 ausgestellten Ausweisen der Fall.