Berlin. Die Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst beginnen. Es könnte zu Streiks kommen, warnt Verdi-Chef Frank Werneke im Interview.
Gerade erst sind die Streiks bei der Deutschen Bahn überwunden, da könnte es schon bald zu erneuten Einschränkungen im Alltag kommen. Am heutigen Freitag beginnen die Tarifverhandlungen im Öffentlichen Dienst der Länder.
Schon vor den Gesprächen zeichnet sich eine schwierige Tarifrunde ab. Die Gewerkschaften Verdi und DBB Beamtenbund und Tarifunion fordern fünf Prozent mehr Lohn, mindestens aber 150 Euro und für Beschäftigte im Gesundheitswesen mindestens 300 Euro mehr im Monat. Die Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) lehnt das ab.
So könnte es passieren, dass auch in diesem Jahr Kitas geschlossen bleiben oder die Müllabfuhr die Arbeit niederlegt. Im vergangenen Jahr wurde das öffentliche Leben in einigen Städten lahmgelegt, ehe man sich einigen konnte. Im Interview mit unserer Redaktion spricht Verdi-Chef Frank Werneke über den Arbeitskampf, steigende Lebenshaltungskosten und eine mögliche Ampel-Koalition im Bund.
Herr Werneke, Sie fordern fünf Prozent mehr Lohn bei einer Inflationsrate von aktuell über vier Prozent. Das ist nicht besonders ambitioniert, oder?
Frank Werneke: Über das gesamte Jahr wird die Preissteigerungsrate bei etwa drei Prozent prognostiziert. Da sind wir mit fünf Prozent gut aufgestellt. Zudem fordern wir bewusst einen Mindestbetrag von 150 Euro, weil das bis in die mittleren Einkommensregionen einen Zuwachs von mehr als fünf Prozent bedeutet. Denn insbesondere steigende Preise für Lebensmittel und Kraftstoffe wirken sich auf mittlere und untere Einkommensgruppen besonders stark aus. Wir sind da sehr klar: Steigende Preise dürfen nicht zu Lasten der Beschäftigten gehen.
Die Arbeitgeber sehen keine Spielräume. Wird die Tarifrunde wieder eine Hängepartie?
Werneke: Es sind alt bekannte Sprüche, dass es keine Spielräume für Tariferhöhungen gibt. Das gehört offenbar für die Arbeitgeber zur Klaviatur bei Tarifverhandlungen. Die Corona-Auswirkungen auf die Länder sind deutlich geringer als beim Bund und den Kommunen. Mit Ausnahme des Jahres 2020 steigen die Steuereinnahmen in den Ländern kontinuierlich. Von daher ist es möglich, eine Einkommenserhöhung zu finanzieren. Notwendig ist es angesichts der steigenden Preise allemal. Ob es eine Hängepartie wird, liegt nicht in unserer Hand, sondern hängt von den Arbeitgebern ab. Leider ist es eine schlechte Sitte geworden, erst in der dritten Verhandlungsrunde ein Angebot zu unterbreiten.
Müssen sich die Bürger auf Streiks im öffentlichen Dienst einstellen? Die Lokführer hatten mit ihrer harten Haltung im Arbeitskampf kürzlich ja Erfolg.
Werneke: Die Tarifauseinandersetzung bei der Deutschen Bahn AG war so hart, weil im Hintergrund die Anwendung des Tarifeinheitsgesetzes (TEG) stand. Ein Schwachsinnsgesetz, weil es die Konflikte unter den Gewerkschaften verschärft, statt sie zu lösen. Ohne das TEG wäre die Auseinandersetzung sicher nicht in dieser Härte geführt worden. Ob wir zur Durchsetzung die Unterstützung der Beschäftigten durch Streiks brauchen, wird sich zeigen. Die Länder sollten eigentlich wissen, dass wir mobilisierungsfähig sind. Und unsere Forderungen sind fair und zielgerichtet. Im Gesundheitswesen fordern wir wenigstens 300 Euro für jeden Beschäftigten. Da geht es um Respekt, um Wertschätzung angesichts der außerordentlichen Belastungssituation.
Es gibt noch das Überthema des so genannten „Arbeitsvorgangs“. Was steckt dahinter?
Werneke: Mit der Digitalisierung werden Arbeitsabläufe zusammengefasst, die früher einzeln erledigt wurden. Also zum Beispiel bearbeitet eine Beschäftigte in der Justiz jetzt vom Posteingang bis hin zur Schriftgutverwaltung viele Stufen des Verfahrens. Damit erledigt sie auch komplexe Aufgaben, was zu einer höheren Eingruppierung führt. Die Arbeitgeber wollen diesen Arbeitsvorgang nun in Einzelteile zerlegen, jeden Arbeitsschritt einzeln bewerten und entsprechend vergüten. Nach und nach kann dies zu einer generellen Abgruppierung im öffentlichen Dienst führen. Da machen wir nicht mit.
Die Regierungsbildung steht bevor. Sie halten die FDP für ein Risiko für die Arbeitnehmer. Was erwarten Sie von einer Ampelkoalition?
Werneke: Ein Risiko für die breite Masse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist die FDP beispielsweise, weil ihr Steuerkonzept lediglich Bezieher hoher Einkommen entlasten soll und gleichzeitig zu Mindereinnahmen in Milliardenhöhe für unser Gemeinwesen führen würde. Es gibt aber auch Chancen. Das Energiegeld, das sowohl Grünen als auch FDP vorschwebt, gehört dazu; also ein Weg, um die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung einkommensunabhängig an die Bevölkerung zurück zu geben. Das bewerten wir positiv. Es muss aber im Koalitionsvertrag auch klargestellt werden, dass bestimmte Ideen der FDP nicht Regierungshandeln werden, etwa eine Reduzierung der nächtlichen Ruhezeiten im Arbeitszeitgesetz.
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Ein Kanzler Olaf Scholz will den Mindestlohn auf zwölf Euro anheben. Reicht das aus?
Werneke: Wir sind sehr dafür, ihn auf zwölf Euro zu erhöhen. Der aktuelle Mindestlohn von unter zehn Euro reicht selbst bei Vollzeitarbeit nicht für ein auskömmliches Leben oder eine auskömmliche spätere Rente. Erst bei zwölf Euro wird ein Rentenniveau oberhalb der Grundsicherung erreicht. Das ist immer noch kein hohes Gehalt. Leider ist der Mindestlohn auch notwendig, weil es ganze Branchen ohne Tarifverträge gibt, etwa die private Altenpflege.
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Was muss die Koalition noch anpacken?
Werneke: Wir brauchen ein Jahrzehnt der Investitionen. Institute von Wirtschaft und Gewerkschaften haben gemeinsam einen Bedarf von 460 Milliarden Euro errechnet, um die marode Infrastruktur zu erneuern und zukunftsfest zu machen. Wir brauchen massive Investitionen in den Klimaschutz, den Ausbau des öffentlichen Verkehrs, in Wohnungsbau und vieles mehr. Selbst wenn es bei der Schuldenbremse bleibt, ist ein Verschuldungsspielraum für diese Aufgaben vorhanden.