Hamburg. Um die Erderwärmung einzudämmen, werden zusätzlich Zehntausende Fachkräfte benötigt. Doch schon heute gibt es zu wenige.
2020 war für den Ausbildungsmarkt ein Horrorjahr: Die Zahl der bundesweit neu abgeschlossenen Lehrverträge brach um annähernd zehn Prozent auf gut 467.000 ein. Es war ein historischer Tiefstand seit Beginn der statistischen Erfassung vor mehr als 40 Jahren. In Hamburg war der Rückgang um mehr als 13 Prozent auf gut 9800 neue Ausbildungsverträge sogar noch größer.
Hat sich die Lage in diesem Jahr gebessert? Auf diese Frage gibt es bislang noch keine eindeutige Antwort. Zwar sind am 1. September Hunderte weitere Schulabgängerinnen und Schulabgänger in Hamburger Unternehmen in die Lehre gestartet. Doch aus Sicht von Kammern und Arbeitsagentur ist es selbst für eine Zwischenbilanz noch zu früh. „Die Besetzung freier Ausbildungsstellen in Hamburger Betrieben wird noch weit in den Herbst anhalten“, teilte die Arbeitsagentur Mitte der Woche mit. Und auch bei der Handwerkskammer wird erwartet, dass mindestens noch bis in den Oktober hinein weitere Verträge unterschrieben und registriert werden.
Lehrlingsmangel: Ausbildungsplätze frei
Zum Stichtag Ende August waren bei der Kammer knapp 1950 neue Ausbildungsverhältnisse registriert. Im Vergleich zum gleichen Zeitpunkt im vergangenen Jahr war die Zahl damit geringfügig höher. Der heftige Einbruch 2020 – so scheint es – wird sich 2021 wenigstens nicht weiter verschärfen. Gleichwohl werden auch in diesem Jahr einerseits Tausende junge Menschen keine Lehrstelle finden und andererseits viele Ausbildungsplätze in den Unternehmen nicht besetzt werden können, weil es keine Interessenten gibt.
Andererseits: Schulabgänger, die trotz der Gastrokrise in der Pandemie mit dem Gedanken spielen, jetzt eine Ausbildung zum Koch zu beginnen, haben reichlich Auswahl. Sie werden mit Kusshand genommen. Zumal, wenn sie das Abitur haben.
Handwerkskammer: Wo es Zuwachs gibt
Doch die Lage ist je nach Beruf höchst unterschiedlich. So registriert die Handwerkskammer etwa bei Glasern sowie bei Apparate- und Rohrleitungsbauern in diesem Jahr heftige Einbrüche von mehr als einem Drittel bei den neuen Lehrverträgen. Zugleich aber einen Zuwachs von 50 Prozent bei Fleischereiberufen, bei Informationselektronikern sogar von 200 Prozent.
Am Bau- und Ausbau-Handwerk sowie an der Sanitär-, Heizungs-, Klimatechnik-Branche (SHK) sind die Pandemie und ihre Folgen in Sachen Ausbildung hingegen weitestgehend spurlos vorübergegangen. „Wir gehen davon aus, dass wir in diesem Jahr etwa ebenso viele neue Ausbildungsverhältnisse haben werden wie 2019. Und das war bisher unser bestes Jahr“, sagt Bernd Seeger, der Geschäftsführer des Berufsbildungswerks der Hamburger SHK-Innung. Und Michael Seitz, der Hauptgeschäftsführer der Bau-Innung Hamburg, sagt: „Die Tendenz geht nach oben.“ Die trotz Pandemie weiter boomende Bauwirtschaft hatte schon im ersten Corona-Jahr mehr Nachwuchskräfte gewinnen können. Im ersten Halbjahr 2021 waren am Bau fünf Prozent mehr Lehrlinge in Ausbildung als ein Jahr zuvor.
Ausbildungsplätze in Bauberufen frei
Aus Sicht der Unternehmen hätten es aber deutlich mehr sein müssen. Sie sind dringend auf der Suche nach Berufsnachwuchs. Allein in der Lehrstellenbörse der Handwerkskammer waren am 1. September noch um die 20 freie Lehrstellen für SHK-Azubis verzeichnet, die an diesem Tag in die Ausbildung hätten starten können. Bei den Elektronikern für Energie- und Gebäudetechnik sah es nicht anders aus, und auch in den Bauberufen sind viele Stellen mit Ausbildungsstart im September unbesetzt.
Das ist auch eine schlechte Nachricht für das Weltklima. Denn die Lehrlingskrise in diesen Berufen bringt die Erreichung der Klimaziele von Senat und Bundesregierung in Gefahr. „Damit Hamburg seine Klimaziele erreichen kann, braucht es noch viel mehr Fachkräfte mit einer fachlich fundierten Ausbildung. Wir wollen und können noch deutlich mehr junge Menschen für das Handwerk gewinnen“, sagt Kammerpräsident Hjalmar Stemmann.
Hamburgs Handwerk braucht Nachwuchs
„Wir brauchen Nachwuchs, Nachwuchs, Nachwuchs“, sagt Bildungswerk-Geschäftsführer Seeger über die Lage in der SHK-Branche. Die stehe vor schwierigen Zeiten: Wirtschaftlich gehe es gut, die Perspektive sei günstig, aber der Ausbildungsmarkt schwierig. Und Michael Seitz von der Bau-Innung sagt mit Blick auf die Klimapläne und die neuen Azubis: „Wir werden diese Menschen dringend brauchen. Um für die anspruchsvollen Bauaufgaben der Zukunft gewappnet zu sein, die mit dem Klimawandel einhergehen, braucht die Branche bestens ausgebildeten Nachwuchs.“ Berufsstarter könnten darauf bauen, dass ihnen nach der Abschlussprüfung ein Arbeitsplatz angeboten werde.
Tatsächlich sind unter anderem der Austausch von alten Heizungen gegen umweltverträglichere Anlagen und die sogenannte energetische Sanierung von Gebäuden elementare Bestandteile der Klimaschutzbemühungen. Etwa ein Drittel des gesamten Energieverbrauchs in Deutschland fällt in Gebäuden an. Um den Bestand in den nächsten Jahren wie geplant klimaneutral zu machen, sind riesige Investitionen erforderlich – und Fachleute, die das können.
Hamburg braucht 100.000 Handwerker
Zahlreiche Studien belegen, wie hoch der Bedarf ist. So werden laut einer im Frühjahr veröffentlichten Prognose des Öko-Instituts in den nächsten Jahren etwa 100.000 Handwerker für die energetische Sanierung von Gebäuden benötigt. Notwendig seien etwa „50 Prozent mehr handwerkliche Fachkräfte“ für Arbeiten an Fenstern und Außenwänden sowie in der Heizungs- und Anlagentechnik. Und auch in dieser Studie wird vor einem Verfehlen der Klimaziele gewarnt. „Mehr Fachkräfte für die Energiewende im Gebäudebereich zu gewinnen muss Hauptaufgabe der Politik in den nächsten Jahren sein. Andernfalls werden die Klimaziele für den Gebäudebestand nicht erreicht“, betont Tanja Kenkmann, die beim Öko-Institut mit dem Schwerpunkt Klimaschutz im Gebäudebereich arbeitet.
Laut einer Prognose im Auftrag des Gebäudetechnik-Unternehmensverbands VdZ sind allein in der Branche Sanitär, Heizung, Klima (SHK) bis zum Jahr 2025 gut 20.000 zusätzliche Beschäftigte notwendig. Und eine jüngst veröffentlichte Untersuchung im Auftrag der Grünen ergab, dass Mitte der 2030er-Jahre in Deutschland annähernd 800.000 Arbeitsplätze im Zusammenhang mit den Klimaschutzanstrengungen bestehen werden. Benötigt würden vor allem Fachkräfte, Spezialisten und Experten. Ein Drittel dieser Jobs, so die Studie, entfalle auf das Baugewerbe.
Lehrlingsmangel: Angebote für Geflüchtete
„Im Handwerk finden junge Menschen hervorragende Berufschancen, die für die Energie- und Klimawende nicht nur demonstrieren, sondern konkret etwas tun möchten“, wirbt Handwerkskammerpräsident Stemmann um Nachwuchs. Die Kammer nennt sie jetzt „Klimaschutzberufe“, um das Image der betrieblichen Ausbildung zu heben. Aber auch, weil einige Branchen bereits heute zu wenige Fachkräfte haben. So zählt die Agentur für Arbeit in ihrer jüngsten Engpassanalyse die SHK-Berufe zu denen mit dem größten Personalmangel.
Das ist für potenzielle Kunden der Unternehmen deutlich spürbar, ergab eine Umfrage des Öko-Instituts unter Eigentümern von Ein- und Zweifamilienhäusern. Demnach erschwert der Personalmangel im Handwerk die Umsetzung energetischer Sanierungen schon heute. Mehr als 40 Prozent der Befragten sagten, dass es schwierig gewesen sei, geeignete Handwerker für die geplanten Sanierungsmaßnahmen zu finden. Jeder Dritte bekam weniger Angebote von Unternehmen, als er angefragt hatte. Jeder Zwölfte erhielt gar kein Angebot.
Die Innungen und ihre Ausbildungszentren versuchen unter anderem mit speziellen Ausbildungsangeboten für Geflüchtete gegenzuhalten. Die Bauwirtschaft nutzt auch ein klassisches Mittel auf einem Ausbildungsmarkt, auf dem die Nachfrage der Unternehmen größer ist als das Angebot an Berufsstartern: Sie zahlt besonders gut. Die Lehrlingsgehälter am Bau gehören zu den höchsten in Deutschland. Azubis Im dritten Jahr bekommen 1500 Euro im Monat.