Hamburg. Bei Weitz am Neuen Wall ist die Lage so dramatisch wie in vielen Innenstadt-Geschäften. Der Inhaber bleibt optimistisch.
Es klopft. Vor der Fensterfront steht ein Mann. Er ist vollständig schwarz gekleidet. Den einzigen Kontrast bildet seine OP-Maske. Sie ist blau und weiß. Es sind Farben, die Trauer, Sehnsucht und Hoffnung ausdrücken, die sinnbildlich für eine ganze Branche stehen: Mittelständische Einzelhändler fürchten sich vor dem Aus, sehnen sich nach alter Normalität und hoffen auf Kunden wie Andreas Fromm (31). Er ist der Mann in Schwarz und hat geklopft, um im Porzellan-Fachgeschäft W. Weitz am Neuen Wall seine online bestellten „Click and Collect“-Einkäufe abzuholen.
Fromm hat bei Weitz Weingläser bestellt. Heute ist einer der zwei Tage pro Woche, an denen er seine Bestellung im Geschäft in einem Zeitfenster von einigen Stunden abholen kann. Die Kartons liegen in Tüten verpackt schon hinter der Ladentür. Verkäuferin Kerstin Weller (54) schließt auf und lächelt, sie freut sich über jeden, der persönlich ins Geschäft kommt. Sie stellt die Tüten auf einen Tisch am Eingang und geht die Bestellung durch. „So, da haben wir sechs Universal, sechs Digestiv, sechs Burgunder und sechs Bordeaux“, sagt sie. Die Gläser kosten 850 Euro. Fromm zahlt mit Karte.
Firma Weitz und Mitarbeiter von Erspartem abhängig
Würden alle Kundinnen und Kunden so viel Geld ausgeben, müssten die Firma Weitz und ihre Mitarbeiter aktuell wohl nicht vom Ersparten des Inhabers leben – zumal bei dem Fachhändler in der Innenstadt pro Tag ohnehin im Schnitt nur etwa zehn Kunden Porzellan oder Küchenzubehör abholen, das sie zuvor per Internet oder Telefon bestellt haben.
Als das Geschäft noch geöffnet war, gingen zumeist um die 120 Kassenbons über die Theke. Jetzt kommen manche Kunden nur, um einen neuen Dichtungsring für eine Thermoskanne zu bekommen oder eine Retoure abzugeben. „Unsere Kunden kaufen meistens nur einen Artikel und ganz gezielt ein“, sagt Jürgen Weitz (60). Ihm gehört das Familienunternehmen, das er in fünfter Generation an vier Standorten führt: zwei in Hamburg, einer in Hannover, einer in Bielefeld.
Weitz hat Online-Auftritt ausgebaut
In den Geschäften macht er aktuell acht bis zehn Prozent vom üblichen Umsatz. Die Onlineeinkäufe, die als Paket verschickt werden, haben sich hingegen verdoppelt: Statt zehn sind es nun zwanzig Prozent vom gewohnten Erlös. Dass er online mehr verkaufe, liege daran, dass er im Corona-Jahr seinen Online-Auftritt in den sozialen Medien ausgebaut habe. Auf Instagram postet er Rezepte: Spätzle mit Seitan-Geschnetzeltem, Detox Suppe und Apfel-Sellerie-Spinatsaft. Dazu ein Mixer, bunte Gedecke und Schalen für Bircher Müsli.
Auf Facebook sind die Artikel auf den Bildern mit dem Onlineshop verlinkt. Weitz hat 2020 etwa 30.000 Päckchen verschickt. Doch das ist nicht genug. „Das reicht nicht, um die Betriebskosten in irgendeiner Art und Weise zu decken oder Waren neu einzukaufen“, sagt er. Wegen der Umsatzeinbußen von 70 Prozent muss er die Kosten reduzieren, hat viele seiner 60 Mitarbeiter in Kurzarbeit geschickt. Deshalb übernimmt er Arbeiten, die sonst sein Team macht – so wie an diesem Morgen.
„Die Kunden sollen das Gefühl haben, dass wir da sind.“
Er fährt mit dem Sprinter aus Hannover zum Neuen Wall, parkt schräg gegenüber vom Geschäft und trägt zwei grüne Kisten hinein. Darin liegen Packpapier und Kartons mit „Click and Collect“-Bestellungen – darunter ein Mixer, Bestecksets und Teekannen. Dann klingelt sein Handy. „Hier ist die Firma Weitz. Einen schönen guten Tag!“ Er hört zu, lacht einmal auf und schreibt mit. „Machen wir fertig.“
Die Anruferin hat eine mintgrüne Leselampe bestellt, die sie am nächsten Tag in Hannover abholt. Mit dieser Art des Geschäfts sind keine großen Einnahmen zu erzielen, sagt Weitz. Ihm gehe es um den Kundenservice. „Die Kunden sollen das Gefühl haben, dass wir da sind.“ Die Nähe findet er wichtig. Deshalb geht er persönlich ans Telefon. „Wir sind ein Bedienfachgeschäft.“ Er berät – beziehungsweise würde gern wieder persönlich beraten.
Vergebliches Warten auf Hilfe vom Staat
Auf die versprochene Hilfe vom Staat wartet Weitz bisher vergebens. „Da bin ich schwer enttäuscht“, sagt er. Die von Finanzminister Olaf Scholz versprochene „Finanzbazooka“ sei bei ihm ausgeblieben. Ihn ärgert, dass der Mittelstand mit leeren Kassen zurückbleibe, große Unternehmen wie Lufthansa und TUI hingegen Milliardensummen erhalten. „Dass man einen intelligenten Lockdown durchführt. Dass man genau überlegt: Wie kann ich die Gefährdeten gut schützen?“
Weitz fürchtet, dass viele Geschäfte die Krise nicht überstehen und die Stadt an Lebensqualität einbüßt. Dass die Einkaufsstraßen leer bleiben. Kaum jemand schlendert am Geschäft vorbei oder bleibt vor dem Schaufenster stehen. Stattdessen patrouilliert eine Reiterstaffel über den Neuen Wall. Sechs Polizistinnen und Polizisten reiten vorbei. Immer wieder schauen sie in die Geschäfte, achten darauf, dass kein Kunde sich im Geschäft umsieht. Das käme die Ladenbetreiber teuer zu stehen, unter Umständen dürfen sie dann gar nicht mehr zum Abholen öffnen.
Kunden müssen für Abholung Geschäft Weitz betreten
Bei Weitz aber müssen Käufer das Geschäft bisweilen betreten: Das Kartenlesegerät empfängt an der Eingangstür keine Daten. Wer erst bei Abholung zahlen möchte, muss mit der Bankkarte bis zur Kasse gehen und dort die PIN eingeben. Damit der Abstand gewahrt bleibt, tritt Verkäuferin Kerstin Weller dann selbst vor die Tür.
Dass das Geschäft am Neuen Wall es trotz allem durch die Corona-Pandemie schaffen wird, dessen ist sich Weitz aber sicher. Er zweifelt nicht daran, dass die Nachfrage nach Porzellan, Besteck und Küchenwaren wieder steigt. Die Corona-Pandemie habe gezeigt, dass die Menschen mehr Wert auf die kleinen Dinge legen, eher ein teureres, langlebigeres Porzellan-Service und Besteck kaufen, Qualität schätzen würden. „Ich glaube, dass durch Corona ein Teil der Bevölkerung umdenkt, ein bisschen nachhaltiger denkt, auf Familie und Gemeinsamkeiten Wert legt – gemeinsam den Tisch decken, gemeinsam kochen.“ Er glaubt, dass darin ein großes Potenzial für die Firma liegt. „Das schöne Messer, ein schönes Glas für den Rotwein. Nicht das Glas aus China, das schnell weggeschmissen wird“, sagt Weitz.
Marktforschung: Menschen werden wertvolles Besteck kaufen
Die Marktforschung macht da Hoffnung: So kam die Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse (AWA) 2020 zum Ergebnis, dass mehr als 700.000 Menschen in den deutschsprachigen Ländern sich in den nächsten ein oder zwei Jahren wertvolles Besteck und Geschirr kaufen möchten. Und: Fast jeder Fünfte hat so etwas bereits im Schrank, ist also im Grundsatz offen für teurere Anschaffungen. Porzellanhändler können mit einer Erholung ihrer Umsätze rechnen, wenn der Lockdown beendet und die Pandemie überwunden ist.
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Jürgen Weitz würde seine Läden lieber heute als morgen wieder für die Kundinnen und Kunden öffnen. Wenn sie nach einem besonders schönen Weinglas fragen, erzählt er gerne die Geschichte vom österreichischen Pastor Denk. Der soll einst tagelang ausprobiert haben, welche Form des Glases für welche Rebsorte optimal ist, damit der Geruch des feinen Tropfens schon vor dem Trinken in die Nase dringt und der Wein genau an der richtigen Stelle die Zunge berührt. Beides bestimmt den Geschmack, sagt Weitz. „Die Kunden kaufen nicht mehr nur das Produkt, sondern auch die Geschichte dahinter, die Story“, weiß er.
Nur wenige Kunden kaufen im Moment bei Weitz
Um die 35 Euro kostet so ein gutes Glas. Im vergangenen Jahr hat Weitz 800 Stück davon verkauft. Andreas Fromm, der Kunde am Morgen, hat diese Weingläser gekauft. Nachmittags kommt er noch einmal wieder. In einem der Gläser war ein Luftbläschen-Einschluss, Fromm tauscht es – und kauft zwei weitere, ein Geschenk. Dann verabschiedet er sich, läuft durch den weithin menschenleeren Neuen Wall Richtung Jungfernstieg. Es wird dauern, bis der nächste „Click and Collect“-Kunde bei Weitz an der verschlossenen Ladentür klopft.