Berlin. Ist deutsches Schulessen zu schlecht? Foodwatch-Chef Martin Rücker fordert Mehrwertsteuersenkung für Obst und Gemüse auf null Prozent.

Während der Corona-Zeit haben die Bürger mehr denn je Zuhause gekocht und gegessen. Wie trägt die Industrie zu unserer Ernährung bei? Im Interview spricht Martin Rücker, Vorstand der Verbraucherorganisation Foodwatch, über Salz, Zucker und Fett in Lebensmitteln, bessere Kennzeichnungen und Steuersenkungen für Obst und Gemüse.

Herr Rücker, wo essen Sie während der Corona-Zeit zu Mittag?

Martin Rücker: Zuhause. Wir kochen in der Familie, da bin ich in einer glücklichen Situation.

Jeder Vierte arbeitet im Homeoffice. Hat sich unsere Ernährung während der Pandemie eher verbessert oder verschlechtert?

Rücker: Im Mittel eher verschlechtert. Vor allem gibt es Hinweise, dass die Spaltung der Gesellschaft zunimmt: Insbesondere Familien in Armut ernähren sich in der Pandemie noch ungesünder als sonst. Die Leidtragenden sind die Kinder.

Inwiefern?

Rücker: Kinder aus armen Familien sind ohnehin stärker von Fehlernährung, Übergewicht und Folgeerkrankungen bedroht. Wenn Mittagessen in Kitas, Schulen und anderen Einrichtungen ausfallen, wird das oft durch unausgewogenere Lebensmittel ersetzt. Die Uni-Klinik München hat in einer Befragung bereits signifikante Gewichtszunahmen in der Pandemiezeit ermittelt. Mehr dazu: RKI: Deutsche haben durch Corona-Lockdown zugenommen

Was sind unausgewogene Lebensmittel? Pizza und Süßigkeiten?

Rücker: Auch. Es sind Lebensmittel mit viel Fett, Zucker und anderen Kohlenhydraten und einem geringen Gehalt an Mikronährstoffen – also Snacks, Süßigkeiten und Zuckergetränke.

Es wird also zu wenig Obst und Gemüse gegessen?

Rücker: Ja, Kinder essen nicht einmal halb so viel Obst und Gemüse wie empfohlen. Das ist auch eine Frage des Preises: Frisches Obst und Gemüse ist vergleichsweise teuer, Nudeln und manche Fertiggerichte dagegen machen satt und sind kostengünstig. Darunter leidet die Ernährungsqualität. Auch interessant: Alkohol, Fleisch, Gemüse: So wandelt sich die Ernährung der Deutschen

Ärmere Haushalte schaden ihrer Gesundheit, weil sie auf die Kosten achten müssen?

Rücker: Gesunde Ernährung kostet Geld. Die politisch Verantwortlichen verschließen die Augen davor, dass wir ein soziales Problem haben: Ärmere Familien können sich ausreichend ausgewogene Lebensmittel schlicht nicht leisten. Kein Corona-Paket hat hier geholfen, und auch außerhalb von Pandemiezeiten wird der Staat seiner Verantwortung nicht gerecht. Es ist ein Skandal, dass es seit mehr als zehn Jahren offizielle Qualitätsstandards für das Essen in Schulen und Kitas gibt, die meisten Einrichtungen sich daran aber nicht halten. Auf den Speiseplänen stehen zu viel Fleisch und Süßes und zu wenig Gemüse.

Wer trägt die Verantwortung?

Rücker: Eine ausgewogene Ernährung darf nicht am Geld scheitern. Wo der Staat direkt Verantwortung trägt, muss er endlich handeln: Alle Bundesländer müssen die Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung für das Essen in Schulen und Kitas zum Pflicht-Standard machen. Zudem braucht es Anreize, um gesunde Lebensmittel günstiger und Rezepturen ausgewogener zu machen.

Indem Ernährungsministerin Julia Klöckner auf freiwillige Selbstverpflichtungen mit einer zuckersüchtigen Industrie anstatt auf Regulierungsmaßnahmen setzt, macht sie sich mit den Tätern gemein. Eine bessere Dienstleisterin kann sich die Branche kaum wünschen. Lesen Sie hier: Zucker: Klöckner will Verbot in Tees für Babys und Kinder

Was ist das größte Problem: Zucker, Salz oder Fett?

Rücker: Sie müssen Ihrem Körper Salz und Fett, aber keinen Zucker über Nahrungsmittel zuführen. Der Körper kann sich Zucker aus Stärke selbst bilden. Eine Handvoll Süßigkeiten am Tag ist nicht das große Problem, aber der Körper braucht dies nicht. Und zu viel wird schnell schädlich – besonders bei Zuckergetränken. Die haben praktisch keine Nährwerte, bringen keine Sättigung. Schon eine Dose Limo am Tag erhöht das Risiko für Übergewicht und Diabetes.

Und warum ist Zucker dann so reizvoll?

Rücker: Zucker ist ein Geschmacksträger und noch dazu ein billiger Rohstoff. Mit Süßwaren und Limonaden erzielt die Lebensmittelindustrie mit die höchsten Gewinnmargen, viel höhere als bei Obst oder Gemüse. Das ist der große ökonomische Fehlanreiz: Die Industrie profitiert am stärksten, wenn sie besonders viele jener Produkte verkauft, von denen wir möglichst wenig verzehren sollten. Auch interessant: Warum weniger Zucker in Lebensmittel für Kinder gehört

Das ist auch der Grund, warum staatlich gegengesteuert werden und gesunde Lebensmittel attraktiver gemacht werden müssen. In den nächsten Monaten wird die europäische Mehrwertsteuerrichtlinie erneuert. Wir fordern, dass sich die Bundesregierung dafür einsetzt, dass in diesem Zuge Null-Steuersätze für Obst und Gemüse möglich werden. Die sollten dann 2021 auch in Deutschland eingeführt werden.

Gibt es Verbesserungsbedarf bei der neuen Ampelkennzeichnung von Lebensmitteln?

Rücker: Entscheidend ist, dass der Nutri-Score europaweit als Pflichtkennzeichnung eingeführt wird. Darüber hinaus gilt: Keine Nährwertkennzeichnung ist perfekt, der Nutri-Score wird sich weiterentwickeln. Wichtig ist, dass die Berechnungsgrundlage von Wissenschaftlern festgelegt wird und nicht von Lobbyisten.

Hat sich die Sicherheit der Lebensmittel durch die Pandemie verschlechtert?

Rücker: Im ersten Lockdown wurden die Lebensmittelkontrollen stark zurückgefahren, Mitarbeiter der Behörden wurden an die Gesundheitsämter ausgeliehen. Gleichzeitig wurden Kontrollen in Pflegeheimen und Krankenhäusern zeitweise fast komplett ausgesetzt. Je mehr die Kontrollen zurückgefahren wurden, desto stärker gingen auch Eigenuntersuchungen der Unternehmen zurück. Lesen Sie auch: Diese 13 Vitamine sind für den Menschen lebenswichtig

Das ist über einen längeren Zeitraum nicht akzeptabel. Ich erwarte, dass die Länder transparent machen, welche Auswirkungen die Pandemie auf die Lebensmittelkontrollen hat – auch hier geht es schließlich um den Gesundheitsschutz der Menschen.