Hamburg. Chef des Beatmungsgeräteherstellers über überfüllte Auftragsbücher, Bestechungsversuche und gewagte Alternativen zum Lockdown light.

Kaum jemand scheint seit der Krise so begehrt wie Stefan Dräger. Der deutsche Gesundheitsminister, der niederländische König, der österreichische Regierungschef, der Gesundheitsminister von Peru – sie alle riefen ihn schon an, denn die Drägerwerk AG & Co. KGaA produziert das, was leider zum „Must-have“ der Pandemie wurde: Beatmungsgeräte. Ein mittelständisches Familienunternehmen aus Lübeck mit dem Fokus auf Medizin- und Sicherheitstechnik rückte so ins Zen­trum des Weltgeschehens. Im Büro des Firmenchefs stehen Fotos mit Merkel und Bundespräsidenten. Stefan Dräger macht sich einen Kaffee und wirkt sehr entspannt. Wie jeden Tag ist der 57-Jährige, der das Unternehmen in der fünften Generation leitet, mit dem Rad zur Arbeit gefahren. Frische Luft. Atmen. Dräger weiß, wie lebensnotwendig das ist.

Hamburger Abendblatt: Herr Dräger, haben Sie heute Morgen schon die aktuellen Infektionszahlen gecheckt und gedacht: „Das bedeutet noch mehr Arbeit für uns …“

Stefan Dräger: Nein, ich gucke weder als Erstes auf die Zahlen noch auf unseren Aktienkurs. Ich trinke Kaffee und lese Zeitung.

Seit Jahresbeginn hat die Dräger-Aktie um mehr als ein Drittel an Wert gewonnen. Wie sehr kann man sich persönlich freuen, wenn die eigene Firma Rekordumsätze einfährt – dies aber mit einer großen Krise zu tun hat?

Dräger: Zum einen denke ich, dass unsere Aktie immer noch unterbewertet wird. Zum anderen bin ich froh darüber, so viel für die Menschen tun zu können, das erfüllt mich mit Demut. Mit unserer Arbeit können wir mehr als je zuvor Leben in aller Welt retten und schützen. Das ist schon ein gutes Gefühl.

War es vor der Pandemie auch so, dass sich Regierungschefs oder Minister persönlich bei Ihnen melden?

Dräger: Es gab schon Kontakte zu Staatsoberhäuptern, wenn ich in kleinere oder sich noch entwickelnde Länder reiste. Aber die Kontakte in der jetzigen Form sind ungewöhnlich und werden sich auch sicher nie mehr so wiederholen. Ich persönlich lege keinen Wert darauf, bekannt zu sein, erkenne aber durchaus den Vorteil für das Unternehmen, wenn unsere Marke nicht nur bei Fachleuten eine Bedeutung hat.

Sind wir Ihrer Ansicht nach über die Phase der schlimmsten Behamsterung hinaus? Oder haben Sie weiterhin extrem viel zu tun?

Dräger: Die Kliniken sind jetzt relativ gut gerüstet, in Deutschland haben wir fünfmal so viele Intensivbetten und Beatmungsgeräte wie beispielsweise in Großbritannien. Aufträge haben wir jedoch nach wie vor viele. Wir sind bis ins nächste Jahr hinein ausverkauft und haben einen Berg abzuarbeiten. Irgendwann muss es unbedingt wieder so sein, dass unsere Produktion nicht bis zum Anschlag ausgelastet ist, dass sie atmen kann. Wir arbeiten derzeit in zwei Schichten à zehn Stunden, in einzelnen Bereichen auch am Wochenende.

Ihre Mitarbeiter verschieben Zahnarzttermine auf sonnabends, der Krankenstand Ihrer Firma liegt bei unter zwei Prozent. Sehr loyal.

Dräger: Das ist richtig. Um Ostern herum haben wir ganz besonders festgestellt, was es mit Menschen macht, wenn sie das Gefühl haben, etwas Sinnvolles zu tun, dass sie gebraucht werden.

Sie sagen, Sie entscheiden anhand der Not in den Ländern, wer Vorrang bei der Belieferung hat. Treibt es Sie manchmal um, nicht allen helfen zu können?

Dräger: Bedingt, nicht sehr, denn wir tun, was wir können. Mehr geht einfach nicht. Ein Vergleich: Wenn Sie als Notarzt zum Zugunglück nach Eschede kommen mit mehr als 100 Toten, fallen Sie nach Stunden ins Bett mit einem guten Gefühl, selbst wenn Sie nicht alle versorgen konnten. Aber ein paar Leben haben Sie gerettet! Es hängt von der inneren Einstellung und der Resilienz ab.

Es gibt bestimmt auch Bestechungsversuche …

Dräger: Oh ja. Bis hin zu der Situation, dass unsere Geschäftsführer in Lateinamerika bedroht wurden. Es gab Hinweise, dass sie als Geiseln genommen werden könnten. Und dass sie gegen Beatmungsgeräte freigelassen werden. Das macht nachdenklich.

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Andere Kriminelle haben versucht, mit Ihrem Produkt Geld zu machen. Sie versprachen Interessenten gegen Vorkasse, Dräger-Beatmungsgeräte schneller zu liefern, was absolut falsch war. Wie sind Sie darauf aufmerksam geworden?

Dräger: Es gab aufmerksame und vertrauenswürdige Kunden und Vertriebspartner, die Kenntnisse von unseriösen Vorgängen bekamen. Jemand bietet an, eine nennenswerte Menge an Apparaten in ex­trem kurzer Zeit für 30 Prozent Aufpreis und gegen 50 Prozent Vorkasse zu liefern? Wer sich auskennt, weiß genau, wie abwegig das ist. Doch es gab Leute, die zahlten. Das Geld ist weg. Wir haben das FBI und Interpol eingeschaltet. In New York wurde ein Chinese festgenommen, in Lyon eine andere Gruppe gefasst. Für unseren guten Ruf ist es nicht zuträglich, wenn so etwas passiert, und ich ärgere mich auch, wenn ich auf Ebay sehe, wie unsere Masken zum zehnfachen Preis verkauft werden.

Bleiben Sie optimistisch, obgleich Sie genau überblicken, was an Medizintechnik derzeit dringend gebraucht wird?

Dräger: Ich bekomme schon viele Schicksale und Leid mit. Insofern bin ich eher Realist mit einer optimistischen Grundeinstellung und denke immer über neue Möglichkeiten und Wege nach.

Wenn Sie neue Lösungen erdenken: Was sind Ihre nächsten Entwicklungsschritte? Mit den Apparaten allein ist es ja nicht getan, man braucht erfahrenes Personal, insbesondere Intensivmediziner und Fachpflegekräfte. Könnten Sie in der Zukunft eine Technik entwickeln, die mit weniger Experten auskommt?

Dräger: Es ist unser erklärtes Ziel, die Technik und die Menschen auf der Intensivstation so zu vernetzen, dass eine weitergehende automatisierte Behandlung möglich wird. Das englische Wort „hospital automation“ umschreibt das ganz gut. Dafür haben wir schon vor 20 Jahren ein System auf den Markt gebracht, verfügbar als Option in einem Beatmungsgerät, in welches das Expertenwissen unserer Kunden eingeflossen ist, in Form von 264 Regeln, 64 Symptomen und 50 Diagnosen. Dieses Expertensystem erlaubt eine automatisierte Entwöhnung des Patienten vom Gerät. Wenn das alle hätten, würde es die Effizienz im deutschen Gesundheitssystem deutlich verbessern. Viele Ressourcen würden frei, Pfleger und Pflegerinnen könnten ganz andere Aufgaben erledigen, als Apparate zu bedienen. Der Automatisierungsgrad in der Akutversorgung ist verglichen mit anderen Branchen noch sehr gering. Das liegt am geringen Budget der Krankenhäuser für neue Technik.

Könnte man Sie mit Ihrem Wissen um die Bedienung Ihrer Apparate sofort als Pfleger einsetzen?

Dräger: Das würde ich lieber nicht machen, die groben Einstellungen bekomme ich hin, aber ich überlasse das lieber Personen, die das regelmäßig machen.

Wie beurteilen Sie den Kurs in Deutschland derzeit, was Corona betrifft?

Dräger: Ich finde die jetzt beschlossenen Maßnahmen, also den sogenannten Lockdown light, nachvollziehbar. Dass die Kitas und Schulen solange es geht offen gehalten werden und die relevanten Funktionen des Staates in Betrieb bleiben. Das ist besser, als gar nichts zu machen und zu sehen, dass das Gesundheitssystem in die Überlast kommt und dann die Leute sterben – so wie in Norditalien, wo die Särge mit Militär-Lkw abtransportiert werden mussten. Noch krasser war es in Ecuador. Mein Sohn hat dort mal ein Jahr lang gelebt, und seine Freunde berichten ihm Schlimmes: Wenn man durch Guayaquil geht, stinkt es fürchterlich in der Stadt, weil sie da gar nicht mehr die Kapazität haben, die Leichen abzutransportieren. Das war im Juli.

Gäbe es andere Lösungen als den „Lockdown light“?

Dräger: Es gibt Alternativen, die jedoch ebenfalls unsere Grundrechte betreffen, wenn wir beispielsweise bestimmte Risikogruppen stark diskriminieren würden. Die Älteren und die Vorerkrankten einzusperren wäre wirksam, um eine Überlast des Gesundheitssystems zu vermeiden. Oder man hebt den Datenschutz auf, so wie in China. Deswegen haben sie dort so geringe Zahlen. Aber beides ist politisch noch schwieriger durchzusetzen und gesellschaftlich noch undenkbarer als der Lockdown light. Die Zeit dafür ist noch nicht reif. Der Erste, der sich mal getraut hat – und das habe ich ganz toll gefunden – war Wolfgang Schäuble, der gesagt hat: Gesundheit hat einen hohen Stellenwert, doch sie steht auch nicht über allem.

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Diese Sicht teilen Sie?

Dräger: Ja, es muss alles wohl abgewogen werden, besonders die Grundrechtseinschränkungen. Auch unter Einbeziehung der Parlamente – die Zeit ist ja eigentlich da, dass das Volk mit seinen Vertretern auch einbezogen wird. Das Regierungshandeln im März war alternativlos wegen der Kurzfristigkeit. Aber inzwischen wäre es zeitlich möglich und auch sehr opportun, die Volksvertreter mit einzubeziehen.

Wie wirkt sich die Pandemie auch in Zukunft weiter auf unseren Alltag aus?

Dräger: Letztens war mein Kollege aus Japan hier. In seinem Land gibt es nur 500 Fälle am Tag. Dabei hat Japan 120 Millionen Einwohner. Die japanische Kultur ist immer schon sehr distanziert und unterkühlt, so kommen Umarmungen überhaupt nicht infrage. Man kommt sich zur Begrüßung auch nicht näher als zwei Meter. Und die Bürger sind sehr diszipliniert und tun weitgehend alles, was die Regierung sagt. Und schon die Kinder lernen, eine Maske aufzusetzen, wenn sie krank sind, um andere zu schützen. Auch wir werden uns in Zukunft daran gewöhnen.

Selbst wenn es eine Impfung gibt, leben wir so?

Dräger: Ja, wir werden mit Corona leben. Die Impfung wird überbewertet. Es gibt ja schon einen Impfstoff. Sputnik V, dadurch hat sich wenig verändert, oder? Und es gibt viele offene Fragen. Wie verträglich ist eine Impfung? Wie viele werden krank oder sterben nur von der Impfung? Außerdem: Wie vielen Menschen hilft sie? Auch bei den neuesten Entwicklungen, etwa von Biontech, ist das die Frage.

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Es heißt aber, der Impfstoff von Biontech habe eine Wirksamkeit von 90 Prozent.

Dräger: Ja, allerdings gab es in der Testgruppe noch nicht so viele Hochrisikopatienten. Das war ein Querschnitt der Normalbevölkerung. Aber wenn es beispielsweise bei allen ab 80-Jährigen nicht so gut wirkt? Und die nächste Frage: Wie lange hält die Wirkung an – und wie reagiert der Stoff mit den Mutationen? Das wird sich alles erst zeigen.

Und wie wird die Verteilung funktionieren?

Dräger: Vieles erscheint denkbar: Wird das Land mit dem meisten Geld alles aufkaufen? Wer in diesem Land bekommt die Impfung zuerst? Auch diese Fragen führen dazu, dass die Impfung nur ein Element in der vielfältigen Anpassung der Menschheit an das Virus ist. Wir werden damit sehr gut leben können. Allerdings werden wir uns an ein paar Stellen umgewöhnen müssen.

Inwiefern?

Dräger: Dass wir immer die Maske aufsetzen, wenn wir was haben, und uns nicht mehr die Hand geben. Wir haben gesehen, dass wir nach der Spanischen Grippe nicht mehr gespuckt haben. Das hat sich damals schlagartig geändert. Die Menschheit ist ja durchaus anpassungsfähig, und da ist Impfen nur ein Element unter den Verhaltensänderungen. Schnelltests werden eine wichtige Rolle spielen. Vielleicht vor Heiligabend? Mit Schnelltests werden auch Großveranstaltungen wieder möglich sein.

Hat Gesundheit einen anderen Stellenwert für uns alle bekommen?

Dräger: Viele haben begriffen, welche Rolle Vorsorge spielt. Und die Mitarbeiter in der Pflege erhalten mehr Wertschätzung, das tat auch Not. Es wurde im Gesundheitswesen und in den Krankenhäusern in der Vergangenheit zu viel gespart. Das wird jetzt neu überdacht, zum Glück.

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Halten Sie persönlich sich besonders fit?

Dräger: Also explizit Sport treibe ich nicht. Ich habe es sogar geschafft, in der Schule als Jugendlicher in Sport ein „ungenügend“ zu bekommen. Doch ich bin gerne draußen an der frischen Luft und spaziere durch den Wald, der direkt hinter meinem Haus beginnt, und ich lege fast alle Wege zu Fuß oder mit dem Rad zurück.

Lübeck war lange für zwei Dinge bekannt: Marzipan und die Buddenbrooks. Jetzt auch für Beatmungsgeräte. Wie stolz macht Sie das?

Dräger: Als größter industrieller Arbeitgeber in der Stadt und im Bundesland waren wir ja auch vorher nicht ganz unwichtig. Das ist eine große Verantwortung.

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