Berlin/Karlsruhe. Verfassungsrichter haben die Entschädigungsregeln für Betreiber gekippt. Die Steuerzahler müssen künftig nun die Lasten tragen.

Der Ausstieg aus der Atomkraft könnte die Steuerzahler noch mal deutlich mehr Geld kosten. Neun Jahre nach der beschlossenen Kehrtwende der deutschen Energiepolitik hat das Bundesverfassungsgericht die Entschädigungsregelungen für die Atomkonzerne gekippt. Der Ausgleich für die betroffenen Unternehmen muss erneut komplett neu geregelt werden.

Eine entsprechende Gesetzesänderung von 2018 sei unzureichend und wegen formaler Mängel nie in Kraft getreten. Dies entschieden die obersten Karlsruher Richter am Donnerstag und gaben der Verfassungsbeschwerde statt. Der klagende Konzern Vattenfall, dessen Atommeiler Brunsbüttel und Krümmel im Jahr 2011 vom Netz genommen wurden, begrüßte das Urteil.

Verfassungsrichter kritisieren Gesetzesvorgaben teilweise als unzumutbar

Das Gericht übt in seinem Beschluss scharfe Kritik an den Gesetzesvorgaben, die in Teilen „unzumutbar“ seien. So müsste Vattenfall versuchen, seine restlichen Strommengen an andere Versorger zu verkaufen. Dies aber bedeute, „entweder potenziell unangemessene Konditionen zu akzeptieren oder aber zu riskieren, kompensationslos auszugehen“, urteilen die Richter.

Zudem habe der Gesetzgeber das Inkrafttreten der Regelung von der Zustimmung der EU-Kommission abhängig gemacht. Diese sei allerdings bis heute nicht erteilt worden, wodurch das Gesetz de facto noch gar nicht in Kraft sei.

„Das Urteil ist vor allem eine Ohrfeige für die Politik, die es versäumt hat, juristisch wasserfeste Regelungen für die Entschädigungen der Atomkonzerne zu finden“, sagt die Energieexpertin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Claudia Kemfert, unserer Redaktion. „Atomenergie war und ist teuer, vor allem teuer für Steuerzahler, die einmal mehr Entschädigungszahlungen für nicht zukunftsfähige und überteuerte Energieversorgung zahlen müssen.“

Bundesregierung will Gesetz nun zügig nacharbeiten

 Wasserdampf steigt aus den Kühltürmen vom Kernkraftwerk Grohnde auf.
Wasserdampf steigt aus den Kühltürmen vom Kernkraftwerk Grohnde auf. © dpa | Julian Stratenschulte

Für abgeschaltete Atommeiler Geld zu erstreiten, ist aus Sicht der Grünen-Bundestagsfraktion moralisch fragwürdig. „Die im Raum stehenden Millionen-Entschädigungen sind unverschämt für zwei AKWs, die bereits vor der Stilllegung 2011 wegen massiver Sicherheitsmängel jahrelang nicht in Betrieb waren“, kritisiert Sylvia Kotting-Uhl, Vorsitzende des Umweltausschusses. Scharfe Kritik übt die Politikerin auch an der Unfähigkeit der Bundesregierung, den Atomausstieg auf rechtssichere Füße zu stellen.

Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) kündigte nun eine „zügige“ gesetzliche Neuregelung an. Der beschlossene Atomausstieg bis 2022 sei von dem Urteil allerdings nicht infrage gestellt, stellt die Ministerin klar. „Es geht um einen Randbereich: Regelungen für gewisse etwaige Ausgleichsansprüche der Akw-Betreiber.“

2011 wurde der Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen

Rückblick. Was war geschehen? Nach dem Unglück des japanischen Reaktors in Fukushima 2011 hatte die damals schwarz-gelbe Bundesregierung die Laufzeiten der insgesamt 17 Atomkraftwerke in Deutschland beschränkt – und zugleich die erst wenige Monate zuvor genehmigten Laufzeit-Verlängerungen wieder zurückgenommen. Alle Meiler sollten von fortan zu jeweils festgelegten Terminen bis spätestens Ende 2022 vom Netz gehen. Das Ende der Atomkraft in Deutschland wurde damit besiegelt.

Alle Kraftwerksbetreiber – RWE, Vattenfall und Eon – zogen gegen den Beschluss vor die Gerichte. In einem ersten großen Urteil bewerteten im Jahr 2016 wiederum die obersten Verfassungsrichter den vorgezogenen Ausstieg jedoch als größtenteils mit dem Grundgesetz vereinbar. Allerdings stehe den Betreibern angesichts der Strommengen, die sie nicht mehr produzieren könnten, ein angemessener Ausgleich zu, so das Gericht.

Energiekonzerne hoffen auf Millionen-Entschädigungen

Der Bundestag reagierte auf das Urteil 2018 mit seiner 16. Novelle des Atomgesetzes, das nun zu Fall gebracht wurde. Bislang hatte sich die Bundesregierung auf die Zahlung Hunderter Millionen Euro eingestellt. Die Konzerne könnten das Geld beantragen, sobald der Atomausstieg 2023 vollzogen ist.

Neben Vattenfall sieht nun auch der Energiekonzern RWE gute Chancen für seine Entschädigungsforderungen. Der FDP-Fraktionsvize Michael Theurer stellt sich hinter die Position der Betreiber. Wenn der Staat in das Eigentum eingreife, „muss er auch angemessen entschädigen“.

Umweltschützer kritisieren die „Profitgier“ der Konzernen

Der Umweltverband BUND wirft Vattenfall vor, seine Klage sei „von Profitgier getrieben.“ Auch die DIW-Ökonomin Kemfert bezeichnet die Forderung als „besonders ärgerlich“. Die Bundesregierung habe die Energiekonzerne bereits stark entlastet, indem sie die immensen Kosten für die Endlagerung des Atommülls garantiert und die Unternehmen von dieser Kostenlast befreit habe.

„Dies war ein guter Deal für die Konzerne, ein schlechter für die Steuerzahler.“ Dass Konzerne daher immer noch Entschädigungen einklagen, bestätige einmal mehr, so Kemfert, „dass die Atomenergie enorm teuer ist, ein Fass ohne Boden“.

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