Hamburg. Eine Hamburger Studie sorgt für Aufregung: Rechnen sich die Gesellschaften ihre Solvenz schön? Was Verbraucher tun können.

Lohneinbußen wegen Kurzarbeit, Furcht vor Jobverlust oder Entlassung – die Auswirkungen der Corona-Pandemie schlagen jetzt auch auf die Altersvorsorge durch: Etwa jeder fünfte Sparer in Deutschland will dafür weniger zurücklegen, weil seine Einnahmen geschrumpft sind. 13 Prozent denken sogar darüber nach, ihre Lebens- oder Rentenversicherungsverträge zu kündigen oder vorübergehend keine Beiträge zu zahlen. Das ergab eine Umfrage des Deutschen Instituts für Altersvorsorge.

Das mag auf den ersten Blick kurzsichtig erscheinen, könnte aber auch Glück im Unglück sein. Denn eine Studie des Hamburger Bundes der Versicherten (BdV), die in Zusammenarbeit mit Zielke Research Consult entstand, zeigt, dass immer mehr Versicherer ernste Probleme bekommen. Ob die Lebensversicherer dauerhaft ihre Versprechen erfüllen können, werde deshalb unsicherer.

Studie: 16 Versicherer haben Solvenzprobleme

„Bei mehr als einem Viertel der untersuchten Unternehmen ist die Lage ernst“, sagt BdV-Vorstandssprecher Axel Kleinlein. 22 der in der Studie berücksichtigten 82 Versicherer haben demnach entweder eine zu geringe Solvenz oder eine negative Gewinnerwartung. 16 Unternehmen, heißt es, hätten Probleme mit der Solvenz. Darunter sind bekannte Versicherer wie Debeka, Ergo Lebensversicherung, HUK-Coburg und Neue Leben aus Hamburg. „Die Branche leidet unter dem anhaltenden Niedrigzins, schwankungsanfälligen Aktien- und Anleihemärkten und den Folgen der Corona-Pandemie“, sagt Kleinlein.

Die Solvenz, also die Zahlungsfähigkeit, des Versicherungsunternehmens ist für die Kunden von entscheidender Bedeutung, denn sie binden sich jahrzehntelang an eine Gesellschaft. Deshalb müssen die Versicherer der Finanzaufsicht BaFin jährlich einen Bericht liefern. Dabei geht es darum, ob das Unternehmen einen ausreichend großen Kapitalpuffer besitzt, um alle in den Verträgen gemachten Zusagen an die Kunden langfristig erfüllen zu können. BdV und Zielke Research Consult haben nun die Zahlen von 2019 untersucht und bewertet.

Debeka leidet unter Rückgang der Zinsen

Eine wichtige Größe ist dabei die Solvenzquote. Beträgt sie 100 Prozent, dann bedeutet das: Der Versicherer ist in der Lage, etwaige Verluste innerhalb eines Jahres auszugleichen. 100 Prozent gilt als Untergrenze. Der BdV-Studie zufolge aber hatten im vergangenen Jahr 16 Versicherer eine Quote unter 100 Prozent, 2018 waren es demnach zwölf Unternehmen gewesen.

So verschlechterte sich die Debeka von 110 Prozent im Jahr 2018 auf 66 Prozent in 2019. „Die Gesellschaft leidet besonders unter dem Zinsrückgang“, sagt Versicherungsexperte Carsten Zielke. Auch die Ergo Lebensversicherung, die kein Neugeschäft mehr betreibt, rutsche bei der reinen Solvenzquote von 105 (2018) auf 80 Prozent.

Die betroffenen Versicherer sehen das allerdings völlig anders. „Die aufsichtsrechtlich relevante Solvenzquote liegt mit 420 Prozent weit über den Anforderungen“, sagt eine Ergo-Sprecherin, räumt aber gleichzeitig ein: „Hierbei nutzen wir die aufsichtsrechtlich vorgesehenen und zulässigen Übergangsmaßnahmen und Volatilitätsanpassungen.“

Axel Kleinlein, Vorstandssprecher Bund der Versicherten (BdV)
Axel Kleinlein, Vorstandssprecher Bund der Versicherten (BdV) © dpa Picture-Alliance / Karlheinz Schindler

Bis zum Jahr 2032 können die Versicherer sogenannte Übergangsmaßnahmen nutzen. So dürfen Versicherer unter bestimmten Bedingungen Anleihen in ihrem Portfolio höher bewerten, auch wenn sie vorübergehend an Wert verlieren. Das führt dazu, dass sie selbst zu deutlich höheren Solvenzquoten kommen als die BdV-Studie. Die Neue Leben etwa verweist auf eine Solvenzquote „nach internem Modell“ in Höhe von 302 Prozent. „Die Übergangsmaßnahmen wurden geschaffen, um den Unternehmen Zeit für notwendige Anpassungen zu geben. Sie schon jetzt herauszurechnen, ist systematisch falsch und ergibt ein unrealistisches Bild“, kritisiert Debeka-Sprecher Christian Arns, die Studie von BdV und Zielke Research Consult.

Aber selbst die BaFin, für die nur die Solvenzquoten mit Übergangsregeln maßgeblich sind, beklagt in ihrem „Journal“ die Qualität der Solvenzberichte. „Allgemeine Aussagen wie ,die Risikotragfähigkeit ist weiterhin gegeben‘ und ,keine materiellen Auswirkungen‘ sind häufig nicht angemessen“, heißt es da.

Offiziell reagieren die Aufseher gelassen auf die BdV-Studie: „Insgesamt stehen die deutschen Lebensversicherer gut da – gerade auch im europäischen Vergleich“, sagt ein BaFin-Sprecher. Gleichwohl unterliegen derzeit rund 20 Lebensversicherer einer intensivierten Aufsicht durch die BaFin, bestätigt die Behörde auf Nachfrage; das bedeute aber nicht, dass die Unternehmen akut gefährdet seien, betont sie zugleich.

Auch andere Berichte sind alarmierend

Welchen Gestaltungsspielraum die Versicherer mit den Übergangsregeln haben, zeigen die Unterschiede zwischen den Solvenzquoten mit und ohne Übergangsregel. Die Lebensversicherung VRK (früher Familienvorsorge), die zur HUK-Coburg gehört, kommt in der BdV-Studie auf eine reine Solvenzquote von 33 Prozent. Mit den Erleichterungen werden daraus 180 Prozent. „Die garantierten Kunden-Zusagen in der Lebens- und Rentenversicherung können zu jeder Zeit erfüllt werden“, sagt eine Sprecherin der Versicherung und verweist darauf, dass die Solvenzquote mittlerweile bei 288 Prozent liege.

Doch nicht nur der BdV bewertet die Lage eines Teils der Versicherer kritisch. So hat Policen direkt, ein Aufkäufer von Lebensversicherungen, 13 Gesellschaften mit einer Solvenzquote ohne Übergangsregeln von weniger als 100 Prozent ausgemacht. Dabei gibt es eine hohe Übereinstimmung mit den Ergebnissen der Verbraucherschützer aus Hamburg.

Alarmsignale für die Versicherten gibt es auch in einem aktuellen Bericht des Ausschusses für Finanzstabilität an den Deutschen Bundestag, in dem Pleiten in Betracht gezogen werden. Im Insolvenzfall ist dann auch der vereinbarte Garantiezins nicht mehr sicher. Der Ausschuss hält vor allem diejenigen Lebensversicherer für gefährdet, die umfangreiche Altbestände an Versicherungsverträgen mit hohem Garantiezins aufweisen und bisher stärker von Übergangsmaßnahmen profitiert haben.

Kunden sollten Kapitalabfindung erwägen

Danach greifen rund zwei Drittel der Lebensversicherer bei der Berechnung ihrer Solvenzquoten die Übergangsmaßnahmen. Diese Quoten bildeten deshalb „die ökonomische Risikotragfähigkeit nicht vollständig ab“, heißt es in dem Bericht. Aus Sicht des BdV liegen Versicherer mit reinen Solvenzwerten zwischen 100 und 200 Prozent im grünen Bereich.

Kunden von Gesellschaften mit niedriger Solvenzquote können darauf hoffen, dass doch noch alles gut geht. „Die Versicherer können handeln, indem sie ihr Eigenkapital stärken, statt die Aktionäre zu bedienen“, sagt Kleinlein. Versicherungskunden rät der Experte zur Prüfung ihres Vertrages. Ob sich eine vorzeitige Kündigung lohne, könne auf der Internetseite des Bundes der Versicherten ermittelt werden.

Auch ein Ruhenlassen des Vertrages ist möglich. Die frei werdenden Beiträge können dann anders für die Altersvorsorge investiert werden. Steht die Auszahlung der Rentenversicherung bald an, kann überlegt werden, ob man nicht lieber eine Kapitalabfindung statt der monatlichen Rente wählt. So ist man nicht länger an die Gesellschaft gebunden. Kleinlein: „Man muss schon mit Nachnamen Heesters heißen, damit sich eine Rentenversicherung lohnt.“ Der Schauspieler und Sänger wurde 108 Jahre alt.

Auf der Seite des Bundes der Versicherten können die Ergebnisse für alle 82 Lebensversicherer in der Studie nachgelesen werden.