Berlin. Ist die Corona-Krise der Turbo für die Digitalisierung? Sabine Bendiek warnt: Ein Selbstläufer wird das nicht.

  • Die Corona-Krise zeigt deutlicht: Es gibt deutliche Mängel bei der Digitalisierung, zum Beispiel bei der digitalen Ausstattung von Schulen
  • Holt Deutschland durch die Krise Technologie-Vorreiter wie die USA und China ein?
  • Ein Interview mit Sabine Bendiek, geschäftsführende Vorsitzende Microsoft Deutschland

Deutsche Unternehmen und die deutsche Politik mussten sich jahrelang den Vorwurf gefallen lassen, die Digitalisierung zu verschlafen. Doch die Corona-Krise hat vielerorts für eine neue Aufbruchstimmung gesorgt. Mobiles Arbeit klappte plötzlich, wo es vorher undenkbar erschien, Unternehmen, die sonst großen Wert auf Präsenzveranstaltungen legten, konferierten virtuell, und in vielen Unternehmen wurde auch in die technische Ausstattung investiert. Ist die Corona-Krise also der Startschuss für Deutschlands Aufholjagd auf die Tech-Giganten aus den USA und China?

Ein Selbstläufer wird das nicht, warnt Sabine Bendiek. Die 54-Jährige kennt die Hightech-Branche wie kaum eine andere deutsche Managerin. Am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge studierte sie Managementwissenschaften und war anschließend unter anderem beim Computer- und Speichersystem-Hersteller Dell aktiv. Seit 2016 ist sie die Vorsitzende der Geschäftsführung von Microsoft Deutschland.

Im Interview spricht sie über die digitalen Mängel an den Schulen, Deutschlands Umgang mit künstlicher Intelligenz (KI) und warum sie sich trotz einer gestiegenen Kundennachfrage nicht als Krisengewinnerin fühlt.

Frau Bendiek, viele Arbeitnehmer waren und sind während der Krise im Homeoffice. Microsoft-Programme bestimmen für viele den Arbeitsalltag. Ist Microsoft ein Krisengewinner?

Sabine Bendiek: Angesichts der Pandemie sollte sich niemand als Gewinner fühlen. Dafür sind die Folgen für Unternehmen und Volkswirtschaften zu weitreichend. Das wäre kurzsichtig. Bei Microsoft leisten wir unseren Beitrag zur Bewältigung der Herausforderungen im Arbeitsalltag. Wir stellen Technologien, Tipps und Ressourcen zur Verfügung, um Menschen zu helfen, flexibel auf die Krisensituation zu reagieren. Allerdings hoffe ich, wir können aus dem aktuellen Digitalisierungsschub am Ende etwas nachhaltig Positives mitnehmen. Das wäre dann in der Tat ein Krisengewinn – für alle.

Microsoft hat früh auf die Krise reagiert und bietet neben Skype nun auch sein Videokonferenz-System Teams kostenfrei an. Ist das eine Kampfansage an die Konkurrenz?

Bendiek: Es ist zunächst eine Chance für Unternehmen, Schulen und Verwaltungen miteinander in Kontakt zu bleiben. So gesehen geht es um einen Beitrag im Kampf gegen die Folgen von Corona. Wir haben bereits vor der Krise Einzelpersonen, Bildungseinrichtungen und kleinen und mittelständischen Unternehmen eine kostenfreie Teams-Variante zur Verfügung gestellt. Um Organisationen jeder Branche und Größe in dieser außergewöhnlichen Situation zu unterstützen, haben wir Unternehmen zudem ermöglicht, unsere Kollaborationslösung für sechs Monate kostenlos zu nutzen. Aktuell erleben wir auch wie sich bundesweit mehr als 200 Partnerunternehmen mit ganz viel Elan ehrenamtlich engagieren, um Schulen bei der Nutzung zu unterstützen. Auch das ist ein starkes Signal.

Wie hat sich die Nachfrage seit Beginn der Krise entwickelt?

Bendiek: Unser CEO Satya Nadella hat dazu kürzlich angemerkt, dass wir rund zwei Jahre Digitalisierung in zwei Monaten erlebt haben. Kurz: Die Nachfrage ist auch bei uns enorm gewachsen. Ende März hatten wir weltweit beispielsweise schon einen neuen Tagesrekord von über 2,7 Milliarden Besprechungsminuten, das war ein Plus von mehr als 200 Prozent innerhalb von zwei Wochen. Aber nüchterne Zahlen deuten nur an, was viele Menschen weltweit bewegt: das Bedürfnis nach Austausch in Zeiten von Social Distancing.

Die Zahl der Cyberangriffe hat in der Corona-Krise stark zugenommen. Müssen sich Microsoft-Nutzer Sorgen machen?

Bendiek: Sie sollten sich nicht sorgen, aber wachsam sein! Microsoft investiert jährlich rund eine Milliarde Dollar in Forschung und Entwicklung für Cybersicherheit. 3500 weltweit verteilte Expertinnen und Experten in Microsofts Cyber Defense Operations Center und der Digital Crimes Unit kümmern sich Tag und Nacht darum, die Microsoft-Lösungen und die Microsoft Cloud abzusichern und sicherzuhalten. Die Nutzer dürfen also von höchsten Standards und Richtlinien ausgehen, um Daten gegen den Zugriff durch Kriminelle abzusichern. Jedoch reicht dies allein nicht aus.

Die Kunden müssen auch selbst Verantwortung für ihre Sicherheit übernehmen, indem sie die Technologien, die wir zur Verfügung stellen, auch wirklich nutzen, ihre Mitarbeiter sensibilisieren und Zugangsdaten wie Endgeräte ausreichend absichern – und beispielsweise besonders umsichtig mit dem Öffnen von fremden E-Mails umgehen. Laut einer Analyse von Verizon gelangt 94 Prozent aller Schadsoftware auf diesem Weg in Netzwerke.

Viele Unternehmen haben in der Krise erfahren müssen, wie groß ihr digitaler Rückstand war. Waren Ihre Kunden überfordert?

Bendiek: Die digitalen Plattformen auszurollen, läuft meist unkompliziert, auch weil sie cloudbasiert sind. Holprig wird es, wo flexibles Arbeiten bisher nie ein Thema war. In einem Land, dessen Arbeitswelt immer noch weitgehend von Präsenzkultur geprägt ist und Führungskräfte gewohnt sind, Leistung mit Anwesenheit gleichzusetzen, müssen viele von heute auf morgen die Kontrolle abgeben und darauf vertrauen, dass ihre Mitarbeiter Verantwortung zeigen.

Aber genau darum geht es jetzt: um Verantwortung einerseits und Vertrauen andererseits. Wo eine solche Kultur bisher fehlte, ist jeder Einzelne besonders stark gefordert. Aber sehr viele Kunden sind auch überrascht, wie hoch die Akzeptanz ist und wie gut bei ihnen die Einführung läuft.

Microsoft Deutschland hat schon vor der Krise auf mobile Arbeit gesetzt. Hat die Krise die Unternehmens-Arbeit überhaupt groß verändert?

Bendiek: Seit sechs Jahren haben wir bei Microsoft eine Betriebsvereinbarung zum ‚Vertrauensarbeitsort‘ und schon vor der Jahrtausendwende gab es bei uns die ‚Vertrauensarbeitszeit‘. Sprich, jeder Mitarbeiter entscheidet seit langem selbst, wo und wann er arbeitet. Und doch war jetzt etwas anders: Wir konnten uns eben morgens nicht mehr spontan entscheiden, ob wir zuhause, im Café oder doch lieber im Büro arbeiten wollen. Aus dem Vertrauensarbeitsort wurde plötzlich ein Zufluchtsort vor einem Virus. Und das ist natürlich auch ein großes Privileg gegenüber all denen, die in den vergangenen Wochen ohne diese Rückzugsmöglichkeit ihre Jobs in vielen wichtigen Bereichen ausgeübt haben.

Auf politischer Ebene wird ein Rechtsanspruch auf mobile Arbeit diskutiert. Microsoft setzt seit Jahren auf das Prinzip der mobilen Arbeit. Wird es Zeit, dass sich mehr Unternehmen anschließen?

Bendiek: Ich gehe davon aus, dass diese Veränderungen anhalten werden. Flexibles Arbeiten von zu Hause wird fast so alltäglich wie die Nutzung von Smartphone und Laptop. Ob es dafür eines Rechtsanspruches bedarf? Ich glaube, viel wichtiger ist es, eine Unternehmenskultur zu fördern, die mobiles und flexibles Arbeiten auf Basis von Vertrauen und Verantwortung ermöglicht. Das gilt auch für die Verwaltung. In diesem Bereich arbeiten in Deutschland immerhin über vier Millionen Menschen.

Große und innovative Konzerne bringen dieses Vertrauen den Mitarbeitern oft entgegen. Bei kleineren Arbeitgebern sieht das anders aus. Der Mittelstands-Verband lehnt Homeoffice ab, da die Produktivität der Arbeitnehmer geringer sei. Geht es wirklich nur mit Freiwilligkeit?

Bendiek: Vielleicht sollten wir uns zunächst einmal die Zeit nehmen, die Erfahrungen der letzten Wochen und Monate gründlich zu bewerten, bevor wir neue Gesetze erlassen. Das Argument mit der Produktivität lasse ich allerdings nicht gelten. Bereits lange vor Corona haben unzählige Studien belegt, dass Unternehmen, die flexibles, und ortsunabhängiges Arbeiten ermöglichen, auch insgesamt produktiver sind. Umgekehrt hat die direkte Kontrolle durch den Chef kaum Einfluss auf die Arbeitsproduktivität.

Deutschland galt zuletzt nicht gerade als Vorreiter in der Digitalisierung. Wird die Krise nun für einen Schub sorgen?

Bendiek: Gerade hat eine Vergleichsstudie von Cisco ergeben, dass Deutschland Fortschritte bei der Digitalisierung macht, aber gleichzeitig von Platz 6 auf 14 zurückfällt. Ein Schub wäre also wünschenswert. Denn auch nach der Pandemie bleiben wir vor allem eins: eine Exportnation, die im internationalen Wettbewerb steht.

In Schlüsselbranchen wie dem Maschinenbau, der Fertigungsindustrie und bei den Automobilherstellern ist bereits die nächste Runde im Digitalisierungsrennen eingeläutet.

Deutschland startet zwar mit viel Expertise und einem guten Maschinen- und Fuhrpark aus der Poolposition, muss sich aber auf einige technische Boxenstopps einstellen, um auch digital auf der Höhe zu bleiben und nicht zurückzufallen. Das heißt aber auch: Homeoffice allein macht noch keine Digitale Transformation.

Sondern?

Bendiek: Auch wenn die Corona-Krise jetzt manchmal als Turbo für die Digitalisierung bezeichnet wird, sollten wir uns nicht täuschen lassen. Das Homeoffice ist nur eine Facette. Beispiel Künstliche Intelligenz: Die meisten deutschen Manager glauben laut Digitalisierungsmonitor 2020 an das positive Potential von KI für ihr Unternehmen, Allerdings ist die Kluft zwischen KI-Pionieren und Nachzüglern groß. Die einen sprechen von Revolution, die anderen wissen nicht einmal, ob es KI-Initiativen in ihrem Unternehmen gibt. Wir können und dürfen uns also nicht darauf verlassen, dass Digitalisierung jetzt plötzlich von ganz alleine geht.

Auch Bildungs- und Verwaltungseinrichtungen werden derzeit in neue digitale Formen gezwungen. Schulen oder auch Ämter haben aber oft nicht die Gelder, um digital schnell aufzurüsten. Geht das am Ende auf die Kosten der Sicherheit, weil etwa beim Datenschutz gespart wird?

Bendiek: Da gibt es keine zwingende Kausalität, eher unglückliche Entscheidungen. Unsere Plattform Teams ist wie erwähnt für Schulen kostenlos, erfüllt die Anforderungen der Datenschutzgrundverordnung und verfügt über die notwendigen Zertifikate.

Wahr ist aber auch: Die fünf Milliarden Euro aus dem DigitalPakt Schule wurden bisher kaum abgerufen, digitale Unterrichtskonzepte und Plattformen fehlen. Und auch deswegen erleben wir einen unfreiwilligen digitalen Crashkurs für Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerende – mit viel digitalem Wildwuchs. Die Generation Z und ihre Lehrer greifen häufig reflexartig zu den Services und Tools, die sie auf Smartphones und Tablets ohnehin schon verwenden. Aber leider hat manche kostenlose Lieblings-App doch einen Preis: die Daten ihrer Nutzer und ihre Sicherheit.

Microsoft Deutschland-Chefin Sabine Bendiek (rechts) hält das von der Bundesregierung vorangetriebene Cloud-Projekt GAIA-X für richtig. Hier ist sie im Gespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Zuge der Internationalen Automobil-Ausstellung IAA im September 2019.
Microsoft Deutschland-Chefin Sabine Bendiek (rechts) hält das von der Bundesregierung vorangetriebene Cloud-Projekt GAIA-X für richtig. Hier ist sie im Gespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Zuge der Internationalen Automobil-Ausstellung IAA im September 2019. © imago images / Arnulf Hettrich

Sie haben 2018 einen wirtschaftlichen Expertenrat ins Leben gerufen, der die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz in Deutschland vorantreiben sollte. Jetzt geht es für viele Unternehmen erstmal ums wirtschaftliche Überleben. Wird die KI-Forschung zurückgeworfen?

Bendiek: Das wäre fatal, gerade weil wir in der KI-Grundlagenforschung eine unserer Stärken in den Forschungsinstituten und Universitäten haben. Unsere größte Herausforderung bleibt aber, dieses Knowhow in Lösungen und Produkte zu übersetzen. Laut Bitkom beschäftigen sich 28 Prozent der deutschen Unternehmen mit dem Einsatz von KI, doch nur 6 Prozent nutzen sie tatsächlich. So verpassen wir Chancen auf innovative Lösungen, die KI uns bietet – auch zur Bewältigung der Corona-Krise!

Auf europäischer Ebene wird mit GAIA-X eine europäische Cloud geplant. Ist eine europäische Zusammenarbeit in Fragen der IT eine Lösung, wie Europa seinen Rückstand gegenüber den USA und auch China aufholen kann?

Bendiek: Im KI-Zeitalter ist die Zeit der Alleingänge endgültig vorbei. Alles andere würde den digitalen Rückstand zementieren. Wir brauchen mehr Bereitschaft, Daten unternehmens- und branchenübergreifend zu teilen. Erst Ende April haben wir eine Open-Data-Initiative gestartet, um eine drohenden „Daten-Kluft“ zu vermeiden. Wir glauben fest, dass alle von der Nutzung und dem Austausch öffentlich zugänglicher Daten profitieren können, um fundierte Entscheidungen zu treffen, effizienter zu werden und sogar einige der weltweit drängendsten sozialen Herausforderungen zu bewältigen.

Wo steht Microsoft in diesem Spannungsfeld?

Bendiek: Microsoft setzt sich sehr stark für solche Partnerschaften ein. International kooperieren wir beispielsweise schon mit SAP und Adobe in der Open Data Initiative oder unterstützen die Open Manufacturing Plattform von BMW, um die Entwicklung von innovativen Industrie-4.0-Lösungen zu beschleunigen. Das zeigt auch, dass europäische Unternehmen stärker von europäischen Daten profitieren können und müssen. Auch Gaia-X will hier Fortschritte ermöglichen – und das unterstützen wir ausdrücklich.

Mit KI sind auch Ängste verbunden, etwa der Arbeitsplatzverlust. Ausgerechnet beim Microsoft-Dienst MSN sollen jetzt Redakteursstellen durch KI ersetzt werden. Was sendet das für ein Zeichen aus?

Bendiek: Wenn jemand seinen Arbeitsplatz verliert, ist das für die Betroffenen immer hart. Doch wir müssen der Realität ins Auge sehen: Die technologische Revolution durch künstliche Intelligenz kommt und wird Arbeitswelten umkrempeln. Dazu zählt, dass Jobs verloren gehen.

Dazu zählt aber auch, dass neue Aufgabenfelder und Berufe entstehen! Der beste Weg, als Gesellschaft mit diesen Veränderungen zurechtzukommen und sogar davon zu profitieren, sind digitale Bildung und Qualifizierung. Hier müssen wir die Schlagzahl deutlich erhöhen.

Was wird bleiben, wenn diese Krise überstanden ist?

Bendiek: Ich glaube, das Staunen darüber, was sich mit einem verantwortungsvollen Pragmatismus in der Digitalisierung in kurzer Zeit erreichen lässt - und die Erkenntnis: Es sind nicht die Technologien, die uns treiben! Das sind wir selbst, unsere unternehmerischen wie politischen Entscheidungen – aber eben auch unsere Versäumnisse.

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