Berlin. Gewerkschaftsbund-Chef Reiner Hoffmann will Eltern in der Pandemie besser absichern. Harte Sparmaßnahmen nach der Krise lehnt er ab.
Normalerweise wäre der Tag der Arbeit für den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) geprägt von Demos und Kundgebungen. Doch normal ist in dieser Krise nichts mehr und so können auch Aktionen rund um den 1. Mai erstmals in der Geschichte des DGB nur digital stattfinden. Drängender ist für DGB-Chef Reiner Hoffmann aktuell aber ohnehin eine schnelle Krisen-Hilfe für Millionen Beschäftigte.
Herr Hoffmann, die Politik hat viele Milliarden Euro lockergemacht, um Betriebe und Arbeitnehmer durch diese Krise zu bringen. Die Gewerkschaften müssten hochzufrieden sein.
Reiner Hoffmann: Die Bundesregierung hat rasch und ambitioniert gehandelt und hat Milliarden-Rettungsschirme für die Wirtschaft aufgespannt, damit die Unternehmen nicht abstürzen. Aber jetzt kommt es darauf an, dass die Beschäftigen nicht abstürzen.
Das hat die Regierung mit der Anhebung des Kurzarbeitergeldes doch getan.
Hoffmann: Es war richtig, das Kurzarbeitergeld anzuheben. Nur folgt die erste Anhebung erst ab dem vierten Monat, die Anhebung auf 80 Prozent des Lohnausfalls erst ab dem siebten Monat. Das ist viel zu spät. In Branchen, die vollständig in Kurzarbeit sind, etwa im Tourismus, in der Gastronomie, zum Teil aber auch in der Industrie, müssen die Beschäftigten derzeit auf 40 Prozent ihres Nettoeinkommens verzichten. Das werden viele nicht verkraften. Der Lohnersatz von 80 Prozent muss ab dem ersten Monat gelten. Ich appelliere an die Arbeitgeber, nicht nur staatliche Rettungsschirme in Anspruch zu nehmen, sondern auch dafür zu sorgen, dass die Einkommenseinbußen der Beschäftigten verringert werden. Dass das geht zeigen zahlreiche Tarifverträge!
Auszubildende haben erst nach sechs Wochen Anspruch auf das Kurzarbeitergeld. Befürchten Sie eine Entlassungswelle?
Hoffmann: Zunächst ist es gut, dass Auszubildende für sechs Wochen die reguläre Vergütung bekommen und erst dann unter die Regelungen des Kurzarbeitergelds fallen. Für den Moment gibt es vereinzelte Rückmeldungen, dass Verträge wegen der Krise gekündigt worden wären. Ich kann die Arbeitgeber auch nur davor warnen. Der Facharbeitermangel wird auch nach der Corona-Krise groß sein. Deswegen ist unsere Forderung an die Unternehmen, auch im bevorstehenden Ausbildungsjahr ausreichend Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen.
Aus Betrieben, die das staatliche Kurzarbeitergeld in Anspruch nehmen, ist häufiger zu hören, dass Beschäftigte mehr oder weniger offen dazu angehalten werden, die volle Arbeitszeit abzuleisten. Es wird damit begründet, dass dem Unternehmen kein zusätzlicher wirtschaftlicher Schaden zugefügt werden dürfe. Was ist Ihre Botschaft an solche Betriebe?
Hoffmann: Es ist unsäglich, wenn Arbeitgeber in einer solchen Situation regelrecht Rechtsbruch begehen. Das ist Betrug an den Beschäftigten und an den Sozialleistungen, der geahndet werden muss. Es gibt klare Spielregeln, auch in der Krise. Die müssen eingehalten werden.
Haben Sie konkrete Zahlen, wie viele Verstöße dieser Art es gibt?
Hoffmann: Nein, dafür ist es zu früh. Die Bundesagentur für Arbeit wird das erst ermitteln können, nachdem das Kurzarbeitergeld ausgezahlt wurde. Wir haben im Moment rund 718.000 Anträge von Firmen. Mitte Mai werden wir genauere Zahlen dazu haben, wie viele Arbeitnehmer in welchem Umfang betroffen sind. Erst danach wird die Bundesagentur feststellen können, ob es Rechtsbrüche gibt. Ich gehe aber davon aus, dass sich die Mehrzahl der Unternehmen an die Regeln hält.
Die Corona-Krise trifft vor allem untere Einkommensgruppen. Auch in der Bildung leiden vor allem Kinder aus sozial benachteiligten Familien, die wegen der Schließung von Kitas und Schulen zurückfallen. Wie lässt sich verhindern, dass sich die soziale Spaltung verstärkt?
Hoffmann: In der Corona-Krise verschärft sich die soziale Ungleichheit, auch in der Bildung. Kinder aus einkommensschwachen Familien haben deutlich weniger Möglichkeiten, am digitalen Unterricht teilzunehmen, und sie haben wesentlich schlechtere Betreuungsmöglichkeiten. Die jahrelangen Versäumnisse unseres Bildungswesens schlagen jetzt voll durch. Wir werden daher massiv in Bildung investieren müssen. Wir müssen dafür sorgen, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien nicht das Nachsehen haben wegen der Krise.
Viele Eltern und Arbeitgeber drängen darauf, die wegen Corona geschlossenen Kitas und Schulen nach und nach für alle wieder zu öffnen, damit Mütter und Väter wieder arbeiten können. Lässt sich das in Zeiten einer Pandemie verantworten?
Hoffmann: Wir plädieren für einen sehr behutsamen Wiedereinstieg. Das ist anspruchsvoll, denn es muss mit kleinen Gruppen und unter Wahrung der Abstandsgebote angefangen werden. Im Kern geht es darum, die Gesundheit sowohl der Beschäftigten in Kitas und Schulen als auch der Kinder sicherzustellen. Zugleich verlangen wir, dass Lohnfortzahlungen für alle Eltern sichergestellt werden, die wegen fehlender Betreuungsmöglichkeiten nicht arbeiten können. Da gibt es derzeit eine Lücke.
Sie meinen die Regelung, wonach Eltern, die wegen geschlossener Kitas und Schulen nicht arbeiten können und auch keine andere Betreuung organisieren können, für maximal sechs Wochen bis zu 2016 Euro erhalten.
Hoffmann: Genau. Diese Regelung muss entfristet werden und so lange gelten, bis wir aus der Krise heraus sind. Alles andere ergibt keinen Sinn.
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Wegen der Corona-Pandemie arbeiten derzeit viele im Homeoffice. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil will draus einen Rechtsanspruch für jeden Arbeitnehmer machen. Ist das eine gute Idee?
Hoffmann: Ich begrüße die Initiative im Grundsatz. Homeoffice birgt viele Chancen, etwa was die Vereinbarkeit von Familie und Beruf angeht. Allerdings müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Es darf nicht zu neuen Formen der Arbeitsüberlastung führen. Arbeitszeiten müssen erfasst und Überstunden bezahlt werden. Zudem muss die technische Ausrüstung gestellt werden und der Datenschutz gesichert sein. Abgesehen davon dürfen wir nicht vergessen, dass Homeoffice in vielen Berufen gar nicht möglich ist. Auch diese Beschäftigten müssen die Möglichkeit haben ihre Arbeitszeiten autonomer zu gestalten. Das geht am besten mit starken Betriebs- und Personalräten und mit Tarifverträgen.
Nach und nach nehmen Firmen und Geschäfte den Betrieb wieder auf. Bald folgen Friseure. Befürchten Sie, dass Arbeitgebern der Umsatz wichtiger ist als die Gesundheit der Mitarbeiter und der Arbeitsschutz darunter leiden wird?
Hoffmann: Das Risiko, dass wir eine zweite Infektionswelle bekommen, ist nicht gering. Deshalb müssen der Arbeits- und Gesundheitsschutz im Vordergrund stehen. Da geht es um weit mehr als das Abstandsgebot. Es müssen ausreichend Infektionsschutzmittel und Gesichtsschutzmasken vorhanden sein. Das geht nicht mit irgendwelchen Halstüchern. Das alles sind Voraussetzungen, die uns einen schrittweisen Wiedereinstieg erleichtern und neue Infektionen ausschließen. Niemand hat ein Interesse daran, dass wir in zwei Wochen vor einem neuen Lockdown stehen. Ich erlebe viele Arbeitgeber derzeit aber durchaus verantwortungsbewusst.
Die Corona-Krise betrifft auch Menschen, die in Hartz IV sind. Das kostenlose Essen der Kinder in Schulen und Kitas fällt weg, Tafeln haben geschlossen. Damit steigen die Ausgaben. Linke und Grüne fordern für diese Menschen eine Art „Pandemie-Zuschlag“. Ist das die Lösung?
Hoffmann: Es ist ein interessanter Vorschlag. Die Regierung bereitet gerade ein Konjunkturprogramm vor. Wir müssen sehen, wie diesen Menschen geholfen werden kann. Betroffen sind auch Studenten, denen der Nebenjob zur Finanzierung ihres Studiums wegfällt und die deshalb in eine Notlage geraten. Auch für sie braucht es eine Lösung. Wir wollen ihnen den Zugang zum Bafög ermöglichen.
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Wie beeinflusst die Pandemie die Arbeit der Gewerkschaften? Wird es in diesem Jahr überhaupt noch ordentliche Tarifrunden geben?
Hoffmann: In den letzten Wochen sind trotz Corona noch Tarifverträge abgeschlossen worden, beispielsweise um das Kurzarbeitergeld aufzustocken. Zugleich haben sich Arbeitgeber und Gewerkschaften in mehreren Branchen darauf verständigt, die anstehenden Verhandlungen nicht auszusetzen, sondern zu strecken und zu einem späteren Zeitpunkt wiederaufzunehmen.
Aber sind Verhandlungen über höhere Löhne in diesem Jahr denn realistisch? Oder geht es nur darum, möglichst viele Jobs zu retten?
Hoffmann: Natürlich kommt es darauf an, Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen. Die Notwendigkeit ist doch ganz offensichtlich. Wir müssen aber schon heute dafür sorgen, dass Beschäftigte beim wirtschaftlichen Aufschwung auch an den Gewinnen beteiligt werden. Es kann nicht die Botschaft sein, den Gürtel enger zu schnallen, das wäre völlig verkehrt.
Viele Bürger fragen sich, ob sich der Staat finanziell gerade so sehr überfordert, dass uns bald harte Spareinschnitte drohen.
Hoffmann: Da wäre ich mal ganz entspannt. Wir sind mit einer sehr moderaten Staatsverschuldung in die Krise gestartet. Ich halte es daher für einen Fehler, die Schulden in schnellen Schritten abzubauen. Wir brauchen wesentlich längere Zeiträume. Ich rate zu einem Blick in die Geschichtsbücher: Der deutsche Wiederaufbau wurde nach dem Zweiten Weltkrieg über 50 Jahre finanziert. Es wäre von daher völlig verfehlt, jetzt eine Debatte darüber zu führen, ob die staatlichen Corona-Hilfen womöglich nicht bezahlbar sind.
Wo könnte das Geld herkommen?
Hoffmann: Es fängt damit an, dass wir Steueroasen endlich schließen und Steuerflucht hart bekämpfen. Die EU könnte auf diesem Wege eine Billion Euro Mehreinnahmen in den nächsten Jahren erhalten. Das wäre ein großer Schritt. In Deutschland müssten wir höhere Einkommen stärker belasten und die geringere Besteuerung von Kapitalerträgen abschaffen. Auch die Erbschaftsteuer bietet Möglichkeiten, ebenso wie die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Wir können die Hilfe in der Krise finanzieren, ohne dass es zu sozialen Verwerfungen kommt. Das ist kein Hexenwerk.
Wird auch genügend Geld für die Grundrente da sein, die ja ab 1. Januar 2021 kommen soll?
Hoffmann: Ich kann Teile der Union nur ermahnen, dieses Versprechen nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Die Grundrente muss Anfang nächsten Jahres kommen. Das ist vereinbart und muss umgesetzt werden.
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