Hamburg. Familienunternehmen verkauft mehr als vier Millionen Notizbücher im Jahr. Wie der Wandel weg von Briefmarkenalben gelang.
Da sitzt jeder Griff. Auf einem Tisch neben ihrem Arbeitsplatz hat Gesine Müller einen Stapel blauer Notizbücher aufgeschichtet. Sie greift nach dem obersten, nimmt die Banderole ab und schiebt es in die Prägemaschine. Klack, schon glänzt ein Name in Goldbuchstaben auf dem Einband. Dann kommt das nächste. Klack, fertig.
Gesine Müller steht in der großen Produktionshalle der Leuchtturm-Gruppe. Wenn Kunden ihre Notizbücher mit Firmenlogo oder Namen versehen haben möchten, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass sie durch ihre Hände gegangen sind. Im Schnitt schafft sie 100 Sonderwünsche in der Stunde. Nur ein paar Schritte weiter ist der Arbeitsplatz von Anna Hermann.
Mit wenigen Bewegungen tauscht sie die farbigen Gummibänder an den Büchern aus – orange statt blau. Auch ein spezieller Kundenwunsch. Die Produktveredlung ist bei dem Familienunternehmen in Geesthacht nach wie vor Handarbeit. Und ein wichtiges Wachstumsfeld. 150.000 individualisierte Notizbücher haben im vergangenen Jahr das Haus verlassen.
Die Leuchtturm-Millionäre aus Geesthacht
Insgesamt wurden 2019 vier Millionen Notizbücher unter dem Markennamen Leuchtturm1917 verkauft. Liniert, kariert oder blanko, fester oder flexibler Einband, in einem halben Dutzend Größen, mehr als 20 verschiedenen Farben und diversen Sondereditionen. Dazu kommen 500.000 Kalender. „Das Geschäft mit Notizbüchern wächst am stärksten“, sagt Axel Stürken (53), der die Firma zusammen mit seinem Bruder Max führt.
Dabei ist der Bereich noch ziemlich neu im Portfolio der Geesthachter. Gegründet worden war das Unternehmen 1917 als Fachverlag für Briefmarkenalben. Bis heute macht die Traditionsmarke etwa ein Drittel des Gesamtumsatzes der Gruppe in Höhe von 65 Millionen Euro aus. Mit 6000 Produkten ist Leuchtturm weltweit Nummer eins der Branche. Allein in Deutschland wird die Zahl der Briefmarkensammler auf fünf Millionen geschätzt. „Das ist ein sehr interessanter Nischenmarkt“, sagt Max Stürken (49).
Wie der Wandel von Briefmarkenalben zu Notizbüchern gelang
Aber nur bedingt auch ein Zukunftsmarkt. Das wurde den studierten Betriebswirten klar, als sie nacheinander in den 90er-Jahren in die väterliche Firma einstiegen. Schon damals stellte sich die Frage, welche Perspektive ein Unternehmen im E-Mail-Zeitalter haben kann, das auf die Leidenschaft von Briefmarkensammlern baut. „Wir haben gemeinsam angefangen zu überlegen, welche neuen Geschäftsfelder wir erschließen können“, sagt Axel Stürken.
Dass sie einen guten Riecher hatten, zeigte sich 2002 bei der Euro-Umstellung. Leuchtturm hatte als erster Anbieter ein Sammelalbum für die Münzen der neuen Währung auf den Markt gebracht. Mit überwältigendem Erfolg. Die Zahl der Münzsammler stieg quasi über Nacht. Die erste Auflage von 10.000 Exemplaren war schnell vergriffen. Letztlich brachte der Spezialverlag im ersten Jahr eine halbe Million der Alben unter die Leute. „Wir hatten zum richtigen Zeitpunkt das richtige Produkt“, sagt Max Stürken. „Da hat natürlich auch Glück mitgespielt.“
Leuchtturm gegen Moleskine: Die Notizbuch-Hersteller grenzen sich voneinander ab
Und es beeinflusste die weitere Entwicklung, bei der die Brüder bewusst nicht auf Mainstream setzten. Während vor 20 Jahren überall in Deutschland Firmen versuchten, mit digitalen Geschäftsmodellen zu punkten, setzten die Stürkens konsequent aufs Analoge. „Das Schreiben mit der Hand liegt in der DNA unserer Familie“, sagt Axel Stürken. Gemeinsam mit dem Manager Philip Döbler, heute einziger Familienfremder in der Firmenleitung, starteten sie 2005 die Marke Leuchtturm1917.
Der Name ist eine Reminiszenz an das Gründungsjahr der Urfirma, dem Kabe-Verlag. „Wir wollten es besser machen als andere Anbieter“, sagt Max Stürken. Ein mutiger Schritt, denn zu dem Zeitpunkt hatte der Hersteller Moleskine den Markt mit den legendären kleinen schwarzen Notizbüchern bereits fest im Griff. Die Geesthachter fügten weitere Details hinzu, wie nummerierte Seitenzahlen und Inhaltsverzeichnis. Außerdem boten sie weitere Größen wie etwa ein A-4-Überformat an. Und sie machten die Bücher farbig.
Leuchtturm verkauft mehr als vier Millionen Notizbücher im Jahr
Seitdem ist das Sortiment jedes Jahr gewachsen und steht flächendeckend in Fachgeschäften, Warenhäusern und teilweise auch im Buchhandel. Konkrete Absatzzahlen gibt es für das Segment nicht. Aber, sagt Axel Stürken, „wir haben inzwischen einen relevanten Marktanteil mit Luft nach oben“. Es gebe ein Grundbedürfnis nach analogen Produkten. „Denn die Welt, in der wir leben, ist analog.“ Auch er selbst schreibe lieber als er tippe.
„Denken mit der Hand“, nennen die Notizbuchmacher das. Dabei schließen sie digitale Vermarktungsstrategien nicht aus. So werden die Notizbücher auch online verkauft. Bereits 2000 hatte die Familie Torquato gegründet, einen Versandhändler für hochwertige Lifestyleprodukte, der heute von Moritz Stürken, dem jüngsten der vier Stürken-Brüder, geführt wird. Die Waren kann man im Netz bestellen oder in einem der fünf Läden kaufen, unter anderem an den Großen Bleichen in der Innenstadt.
Der Jahresumsatz der Gruppe liegt bei 65 Millionen Euro
Insgesamt beschäftigt das Unternehmen heute weltweit 500 Mitarbeiter, 250 davon am Firmensitz in Geesthacht. In den vergangenen Jahren haben die Mittelständler, die seit dem Rückzug von Vater Kurt Stürken die operative Führung komplett übernommen haben, ihr Sortiment durch Zukäufe erweitert und haben aus dem Unternehmen eine Art „Marken-Haus“ gemacht.
So gehören die Papeteriemarke Semikolon, der Lederkleinwaren-Hersteller Treuleben und als jüngster Erwerb seit 2016 auch die von der Hamburgerin Waltraud Bethge gegründete Edelmarke Bethge zur Gruppe. Produziert wird in Taiwan, Tunesien, Ungarn und Tschechien. Laufend werden neue Formate entwickelt. So ist etwa das Journal Same lines a day, in dem Notizen eines Datums aus fünf Jahren gesammelt werden, eins der erfolgreichsten Einzelprodukte der letzten Jahre. Ein Lesejournal, auf das die Unternehmer große Hoffnungen gesetzt hatten, floppte dagegen bei den Kunden.
Analoge Notizbücher, doch "Terminplanung im Unternehmen ist digital"
„Wir verkaufen Freiräume für Gedanken“, sagt Axel Stürken. Erstmals bietet Leuchtturm deshalb jetzt auch ein Schreibgerät an. Der Drehgriffel, wie sie den Kugelschreiber, der wie ein Drehbleistift funktioniert, nennen, hat ein historisches Vorbild aus den 1920er-Jahren. „Aber unserer ist statt aus Bakelit aus Aluminium und Messing“, sagt der Unternehmer mit Gespür für schöne Dinge.
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Ende März soll der Drehgriffel in den Läden sein. Passend zu den Leuchtturm-Notizbüchern ist er in verschiedenen Farben zum Preis von 19,95 Euro erhältlich. Axel Stürken hat schon einen und benutzt ihn auch. Natürlich schreibt er genau wie sein Bruder Max am liebsten in ein Notizbuch aus der eigenen Fabrikation. Nur beim Kalender klappt das nicht. „Die Terminplanung im Unternehmen ist digital.“