Hamburg. Das Unternehmen Luis aus Hamm entwickelt und vertreibt Abbiegeassistenten. Nun tüftelt das Team an einer weiteren Innovation.

Der tragische Unfalltod einer jungen Mutter wurde den Hamburgern vor wenigen Tagen noch einmal ins Gedächtnis gerufen. Das Amtsgericht verurteilte einen Lkw-Fahrer wegen fahrlässiger Tötung zu acht Monaten Haft auf Bewährung und 4800 Euro Geldbuße. Der Mann hatte im Mai vergangenen Jahres beim Rechtsabbiegen vom Eppendorfer Weg in die Osterstraße mit seinem Lastwagen die Radfahrerin überrollt. Die 33 Jahre alte Mutter zweier kleiner Kinder starb noch an der Unfallstelle.

Hätte der Unfall verhindert werden können, wenn der 16-Tonner mit einem sogenannten Abbiegeassistenten ausgerüstet gewesen wäre? Das blieb während der Gerichtsverhandlung offen. Doch das Unglück von Eimsbüttel und der Tod eines Radfahrers, der im März 2019 in Stellingen ebenfalls von einem rechts abbiegenden Lkw überrollt wurde, haben Konsequenzen gehabt.

Hamburgs städtische Unternehmen sollen laut einem Bürgerschaftsbeschluss nur noch neue Lkw über 3,5 Tonnen anschaffen, die mit einem System ausgestattet sind, das vor Kollisionen mit Radfahrern oder Fußgängern warnt, die sich in dem vom Fahrer nicht einzusehenden toten Winkel befinden. Alle Fahrzeugflotten sollen zügig mit Abbiegeassistenten nachgerüstet werden. Im Frühjahr begann ein Pilotversuch, in dem unterschiedliche technische Lösungen getestet werden.

Luis hat schon 1000 Assistenten verkauft

Eine davon hat ein kleines Hamburger Unternehmen entwickelt, sie ist seit gut einem Jahr auf dem Markt – und bereits mehrere 1000-mal verkauft worden. „Es ist das derzeit umfassendste, sicherste und innovativste System“, sagen Matthias Feistel und Martin Groschke selbstbewusst. Die beiden Geschäftsführenden Gesellschafter der Firma Luis sind mit ihrem Abbiegeassistenten Luis Turn Detect innerhalb kurzer Zeit zu ernsthaften Konkurrenten von mächtigen Branchengrößen wie Continental oder dem zum Chiphersteller Intel gehörenden Start-up Mobileye geworden.

Das zeigte auch ein Feldversuch mit neun unterschiedlichen Assistenzsystemen in Baden-Württemberg. Die Luis-Lösung war dabei eine von zweien, die von den Nutzern ganz überwiegend positiv bewertet wurde.

„Große Lkw-Hersteller wie MAN, Iveco und Renault bieten unseren Abbiegeassistenten mittlerweile als Sonderausstattung an“, sagt Groschke. Lebensmittelketten, Stadtreinigungen wie die in Bremen, Abfallwirtschaftsunternehmen wie Remondis und Speditionen rüsten ihre Lkw-Flotten mit dem Luis-System nach. Das kostet inklusive Einbau pro Fahrzeug etwa zwischen 2000 und 2500 Euro. „Pro Woche verkaufen wir bis zu 300 Assistenten“, sagt Feistel.

Das System basiert auf einer Kamera

Anders als viele andere Systeme basiert der Luis-Assistent auf einer Kamera, die an der rechten Seite des Fahrerhauses montiert wird, den toten Winkel erfasst und ihre Bilder auf einen Monitor auf dem Armaturenbrett überträgt. Setzt der Fahrer den Blinker oder schlägt er das Steuerrad nach rechts ein, während sich ein Radfahrer oder Fußgänger in die gleiche Richtung wie der Lkw bewegt, ertönt ein Warnton.

Selbst dann, wenn der Mensch von parkenden Autos verdeckt wird. Es ist das Szenario bei etwa 70 Prozent aller schweren Abbiegeunfälle. Dabei sterben in Deutschland mehrere Dutzend Menschen pro Jahr. Nach Ansicht von Unfallforschern lassen sich mehr als die Hälfte dieser Todesfälle durch Abbiegeassistenten vermeiden.

Verpflichtend ist deren Einbau gleichwohl noch nicht. Voraussichtlich erst ab dem Jahr 2024 müssen nach den aktuellen Plänen der EU sämtliche neu zugelassenen Lkw mit einem Rechtsabbiegeassistenten ausgestattet sein.

„Wenn es so kommt, wird sich der Markt verzehnfachen“, sagt Groschke. Ganz neue Lkw-Modelle sollen schon von 2022 an standardmäßig einen Assistenten haben. Darauf bereitet sich die Branche bereits vor. „Wir sind derzeit in Gesprächen mit allen großen Lkw-Herstellern, ob der Turn Detect in ihrer Serienfertigung eingesetzt wird“, sagen die Luis-Geschäftsführer.

Die Zahl der Mitarbeiter hat sich verdoppelt

Profitiert hat das Unternehmen bislang stark von einem Förderprogramm des Bundesverkehrsministeriums. Aus dem Zehn-Millionen-Euro-Topf wurden 80 Prozent der Kosten einer Nachrüstung bezahlt. Die Nachfrage war riesig. Das zeigt sich auch in den Luis-Geschäftsräumen am Hammer Deich. Die Zahl der Mitarbeiter ist binnen eines Jahres von 20 auf 40 nach oben geschnellt, weitere zehn Arbeitsplätze sollen zügig besetzt werden.

Der Umsatz wird sich dieses Jahr voraussichtlich auf über zehn Millionen Euro mehr als verdoppeln. Mehr als verdoppeln wird sich Anfang 2020 auch die Büro- und Werkstattfläche. Die derzeit genutzten 400 Quadratmeter sind wegen des rasanten Wachstums viel zu klein geworden.

Die Kamerasysteme und der Abbiegeassistent werden beständig weiterentwickelt. So startet in diesen Tagen gemeinsam mit der Hamburger Stadtreinigung ein weiterer Pilotversuch. Das städtische Unternehmen hat bislang mehr als 50 ihrer derzeit gut 500 dafür geeigneten Fahrzeuge mit Abbiegeassistenten ausgestattet; zum Teil mit dem Luis-System.

Ein gutes Dutzend dieser Lkw wird seit Donnerstag technisch aufgerüstet, um die vom Abbiegeassistenten erfassten Daten auswerten zu können. Sie sollen zeigen, wo im Hamburger Straßennetz besonders häufig Kollisionen zwischen abbiegenden Lkw und Radfahrern drohen. „Der Fahrer könnte dann vorab gewarnt werden, wenn er sich einem solchen Hotspot nähert“, sagt Groschke.

Bald kommt der Anfahrtassistent

Im kommenden Frühjahr soll zudem ein sogenannter Anfahrtassistent auf den Markt kommen. „Der Bereich direkt vor dem Fahrerhaus ist bei vielen Lkw ebenfalls schwer oder gar nicht einzusehen“, sagt Feistel. Das belegt auch eine Studie der Unfallforschung der Versicherungsbranche (UDV).

Demnach werden etwa ebenso viele Fußgänger pro Jahr bei Unfällen mit schweren Lkw getötet wie Radfahrer. Fußgänger aber sehr viel häufiger, weil der Fahrer beim Anfahren nicht gesehen hat, dass ein Mensch direkt vor seinem Lkw steht. Das neue Luis-System soll beide toten Winkel gleichzeitig beobachten.

Die Unfallforscher der Versicherungsbranche fordern genau solche technischen Lösungen zur Verhinderung von Anfahrunfällen – und dass ihr Einbau schnell verpflichtend wird. Der UDV-Chef Siegfried Brockmann mahnte erst vor wenigen Tagen zur Eile. „Die Fehler wie beim verpflichtenden Einbau von Abbiegeassistenten dürfen sich nicht wiederholen“, sagte er. „Dabei ist viel zu lange gezaudert worden.“