Hamburg. Der frühere Bertelsmann- und Arcandor-Chef über seinen Aufstieg, die Zeit im Gefängnis und ein völlig neues Leben in Winterhude.
Wer heute einen der zahlreichen öffentlichen Aufritte von Thomas Middelhoff erlebt, stellt sich unwillkürlich diese Frage: Wie viel von dem, was ihn einst zu einem der bekanntesten und bestbezahlten Top-Manager Deutschlands gemacht hat, steckt noch immer in diesem Mann?
„Noch immer“ heißt im Fall von Middelhoff: Nach einer Verurteilung zu drei Jahren Gefängnis, nach dem Verlust seines Vermögens, seiner Familie und seiner Gesundheit, nach seiner Rückbesinnung auf den christlichen Glauben in der Haft und dem schonungslosen Eingeständnis vielfältigen Fehlverhaltens.
Mit Arbeit und Glück zum Bertelsmann-Chef
Seinen Aufstieg zum Chef des Medienkonzerns Bertelsmann Ende der 1990er-Jahre habe er harter Arbeit, aber auch einer Reihe von Zufällen und Glück zu verdanken gehabt, sagt er an diesem Abend auf dem Podium des Restaurants Del in Poppenbüttel, wo er auf einer äußerst gut besuchten Veranstaltung des „Alstertal Magazins“ vor Unternehmern spricht.
Doch es waren wohl auch andere Faktoren, die ihn nach oben brachten. Er ist eloquent, wirkt trotz seiner inzwischen 66 Jahre noch immer jungenhaft und besitzt zweifellos in hohem Maße die Gabe, Menschen für sich einzunehmen. So fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, warum der damalige Bertelsmann-Vorstandsvorsitzende Mark Wössner auf den ehrgeizigen Jungmanager aufmerksam wurde, ihn förderte und ihn schließlich zu seinem Nachfolger aufbaute.
2015 musste Middelhoff Privatinsolvenz anmelden
Middelhoff enttäuscht das Vertrauen der Bertelsmann-Eignerfamilie Mohn nicht. Eine von ihm eingefädelte Investition in den US-Internetkonzern AOL macht Bertelsmann um rund 7,5 Milliarden Euro reicher und bringt Middelhoff einen Bonus im dreistelligen Millionenbereich ein.
Er sucht die Nähe von Unternehmergrößen wie Bill Gates (Microsoft), Steve Jobs (Apple) und Jeff Bezos (Amazon), verbringt ein Wochenende mit dem US-Präsidenten George W. Bush. Die „Gier nach Anerkennung“ habe ihn angetrieben, sagt Middelhoff heute darüber.
Arcandor: eine Fehlentscheidung
Auf den Abschied von Bertelsmann im Jahr 2002 folgt eine großzügig bezahlte Tätigkeit für eine Finanzinvestitionsfirma in London. Doch als ihn die Quelle-Erbin Madeleine Schickedanz bittet, an der Sanierung des schwer angeschlagenen Handels- und Touristikunternehmens KarstadtQuelle (später: Arcandor) mitzuwirken, lässt er sich darauf ein – eine Fehlentscheidung, wie Middelhoff einräumt.
„Ich habe damals aber das Gefühl entwickelt, ich könne über das Wasser laufen.“ Er habe es allen in Deutschland zeigen wollen, dass ihm selbst diese „Mission Impossible“ gelinge.
Zwei Millionen Euro Bonus
Zwar konnte er das Unternehmen, das bei seinem Amtsantritt gerade noch für sechs Wochen Geld in der Kasse gehabt habe, durch den Verkauf von Warenhausimmobilien zunächst über Wasser halten. Nur wenige Wochen nach seiner Ablösung an der Vorstandsspitze im März 2009 musste Arcandor schließlich aber doch Insolvenz anmelden.
Dabei hatte man Middelhoff gerade noch einen Bonus von gut zwei Millionen Euro überwiesen. „Den hätte ich nicht nehmen dürfen“, sagt er jetzt. An die Arcandor-Pleite schloss sich eine langwierige juristische Aufarbeitung an. So fordern die Gläubiger des Konzerns viele Millionen von Middelhoff, der seinerseits im Jahr 2015 Privatinsolvenz anmeldete.
Vorwürfe: Steuerhinterziehung und Untreue
Gemessen an den Geldsummen, mit denen der Ex-Manager im Laufe seiner Karriere hantierte, wurde er im November 2014 für den vergleichsweise geringen Betrag von weniger als 500.000 Euro strafrechtlich verurteilt. Es ging dabei unter anderem um Steuerhinterziehung, weil Middelhoff die Anfertigung einer Festschrift für seinen Mentor Mark Wössner als Betriebskosten bei Arcandor verbuchen ließ.
Hinzu kam Untreue in 27 Fällen: Als Firmenchef des Handelskonzerns ließ sich Middelhoff mit dem Hubschrauber von seinem Bielefelder Anwesen auf einem 30.000-Quadratmeter-Grundstück in die Firma nach Essen fliegen, um nicht am Kamener Kreuz im Stau stehen zu müssen. Nach Auffassung der Richter hätte er die Kosten dafür nicht dem Unternehmen in Rechnung stellen dürfen.
Wegen Fluchtgefahr verhaftet
Noch im Gerichtssaal wurde er vor den Augen seiner Frau und seiner Kinder wegen Fluchtgefahr verhaftet. Das Wort „Schock“ sei noch zu schwach für das, was er empfand, so Middelhoff über diesen Moment. Nach mehr als fünf Monaten in Untersuchungshaft verbrachte er 18 Monate im offenen Vollzug und arbeitete in dieser Zeit als Hilfskraft in einer Werkstatt für behinderte Menschen, bis er nach knapp zwei Dritteln seiner Strafe Ende 2017 vorzeitig aus der Haft entlassen wurde.
Im Untersuchungsgefängnis zog sich Middelhoff eine seltene, unheilbare Autoimmunkrankheit zu, die das Herz und andere Organe schädigt und die er auf den ständigen Schlafentzug wegen 15-minütlicher Suizidkontrollen zurückführt.
25 "Kollegen" in der Gemeinschaftszelle
Dennoch gelingt es ihm, auf die Phase der Haft auch mit Humor zurückzublicken – etwa auf den Augenblick, als man ihn nach der Verhaftung, noch in seinem teuren Ermenegildo-Zegna-Anzug, zu 25 „Kollegen“, wie er die anderen Häftlinge nennt, in eine Gemeinschaftszelle sperrte: „Ich hatte Angst vor ihnen, aber sie hatten wohl auch Angst vor mir. So, wie ich aussah, müssen sie mich für einen Mafia-Paten gehalten haben.“
Seit seiner Entlassung hat Middelhoff zwei Bücher geschrieben. Eines davon trägt den Titel „Schuldig.“ Bei seinen Vortragsveranstaltungen stellt er aber unmissverständlich klar, dass er sich nicht im juristischen Sinn schuldig fühlt. Das betrifft etwa die Helikopterflüge: „Ein Manager muss selbst entscheiden können, welche Verkehrsmittel er nutzt. Das kann nicht ein Richter im Nachhinein für ihn tun.“
Dreizimmerwohnung in Winterhude
Doch die Schuld an seinem Absturz trägt nach Middelhoffs Bekunden allein sein früherer Hochmut. Er illustriert das am Beispiel der Wössner-Festschrift: Damals habe er „eine Sekunde lang“ überlegt, ob er seine Vorstandskollegen in die Entscheidung einbeziehen sollte: „Aber dann habe ich mir gesagt: Die Idioten frage ich doch nicht.“ Auch dass er an den Wochenenden mit dem Privatjet zu seiner Villa in St. Tropez düste, während das Kaufhauspersonal um die Jobs bangen musste, sei falsch gewesen.
Heute lebt Middelhoff nach eigenen Worten in einer Dreizimmerwohnung in Winterhude vom pfändungsfreien Teil der Bertelsmann-Firmenrente. Seine Lebensgefährtin – Middelhoffs Ehe wurde geschieden – ist als Journalistin in Hamburg tätig. Er berät Start-ups und will, wie er sagt, junge Menschen davor bewahren, die gleichen Fehler zu machen wie „Big T“ selbst, der es seinerzeit als Top-Manager nicht ertragen konnte, wenn er im Flugzeug nicht in der ersten Reihe sitzen durfte: Sich zu wichtig zu nehmen, nicht auf den Rat anderer zu hören.
In christlichen Kreisen ist Middelhoff fast ein Star
In christlichen Kreisen ist Middelhoff fast so etwas wie ein Star geworden. Wer ist schon so tief gefallen wie er, wer kann so wortgewandt über Gier, Reue, die Bedeutung der Religion für sein persönliches „Wiederaufstehen“ und über das Glück der Besitzlosigkeit sprechen? Seine neu gefundene Demut hält ihn allerdings nicht davon ab, öffentlich andere Manager wie Siemens-Chef Joe Kaeser zu kritisieren.
Eine prominente Position in der Wirtschaft werde man ihm kaum wieder anbieten, vermutet Middelhoff. Dieses Kapitel sei beendet und schließlich führe er nun ein bewussteres und besseres Leben als damals. In seiner Zeit als Spitzenmanager sei er nicht authentisch gewesen, er habe eine Rolle gespielt, sagte Middelhoff einmal. Ob das heute anders ist, weiß womöglich nur Gott.