Hamburg. Probleme mit 737 Max bremsen Amerikaner aus. Sie verlieren derzeit auch bei kleinen Fliegern mit großer Reichweite den Anschluss.
In der Luftfahrtindustrie ist es nicht üblich, sich über Probleme des Konkurrenten zu freuen – schon gar nicht, wenn dessen Schwierigkeiten mit einem Unglück zusammenhängen. Schließlich ist die Welt dieser Branche klein, die Geschicke der Wettbewerber sind zu sehr miteinander verflochten. Und doch werden die Beschäftigten von Airbus gerade auch am Standort Hamburg mit einer gewissen Genugtuung registrieren, dass ihr Unternehmen auf dem besten Wege ist, dem Erzrivalen Boeing in diesem Jahr den Titel des weltgrößten Flugzeugbauers erstmals seit 2011 wieder abzunehmen.
Denn im vergangenen Jahr gelang es den Airbus-Mitarbeitern nur mittels eines enormen Kraftakts, die interne Vorgabe von 800 Auslieferungen zu erfüllen und damit zumindest in die Nähe der Produktion des US-Konzerns zu kommen: Weil beide Hersteller von Triebwerken für die A320neo-Reihe ihre Motoren nicht in den benötigten Mengen liefern konnten, wurden in der ersten Jahreshälfte nur gerade einmal 303 Maschinen fertiggestellt. Dank eines extrem anstrengenden Endspurts mit 127 Auslieferungen allein im Dezember und der erstmaligen Hinzurechnung von 20 Exemplaren des kleinen A220 – das Programm der früheren CSeries war im Juli 2018 vom kanadischen Konzern Bombardier übernommen worden – kam man dann doch noch auf die angestrebte Zahl. Von den 800 Jets entfielen 626 auf die A320-Familie, mehr als die Hälfte dieser Flugzeuge wurde im Werk auf Finkenwerder endmontiert.
Boeing weit hinter Airbus zurückgefallen
In diesem Jahr sollen sogar insgesamt 880 bis 890 Maschinen an die Kunden übergeben werden und es deutet alles darauf hin, dass die Airbus-Beschäftigten diesmal eine höhere Stückzahl schaffen als Boeing, was sie durchaus als nachträgliche Anerkennung für die Mühen des vergangenen Jahres ansehen könnten. Tatsächlich hat sich die Situation umgekehrt: Die Amerikaner sind im Zeitraum von Januar bis Ende Juni 2019 mit nur 239 Auslieferungen weit hinter Airbus (389) zurückgefallen.
Der Grund dafür: Weil Flugsicherungsbehörden im März nach dem zweiten Absturz eines Jets vom Typ Boeing 737 Max ein praktisch weltweites Flugverbot für dieses Modell verhängten, können seitdem die fertig gebauten Jets das Werk in Renton nahe Seattle nicht verlassen. Sie stehen dort inzwischen dicht an dicht sogar auf den Mitarbeiterparkplätzen.
Zwar sind die in Renton geparkten Maschinen alle schon komplett montiert. Dennoch hält es der Hamburger Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt für praktisch ausgeschlossen, dass Boeing im zweiten Halbjahr den Rückstand gegenüber der Auslieferungszahl von Airbus noch aufholen kann, indem man die auf Halde produzierten 737-Jets in schneller Folge an die Käufer abgibt. „Man darf den Aufwand nicht unterschätzen, eingemottete Flieger wieder zu aktivieren“, so Großbongardt. „Das dauert jeweils mehrere Arbeitstage. Außerdem müssen ja auch sämtliche Abnahmeflüge mit den Kunden noch stattfinden“ – und jeden Monat kämen gut 40 weitere Maschinen hinzu.
Ende September dürfte Flugverbot fallen
Im Hamburger Airbus-Werk haben die Mitarbeiter schon Erfahrungen mit einer solchen Lage: 2017 und Anfang 2018 konnten zeitweise viele Flugzeuge der A320neo-Familie nicht komplettiert werden, weil ihnen die Triebwerke noch fehlten. Allerdings gebe es einen wesentlichen Unterschied in der Größenordnung, sagt Großbongardt: „Bei Airbus waren es in der Spitze etwas mehr als 100 Jets, bei Boeing werden am Ende mindestens doppelt so viele stehen.“
Erst voraussichtlich gegen Ende September dürfte das Flugverbot für die 737 Max aufgehoben werden, erwartet der Hamburger Branchenexperte: „Alles andere wäre eine positive Überraschung.“ Beim Absturz einer Boeing 737 Max von Ethiopian Airlines im März und einer Maschine gleichen Typs der indonesischen Fluglinie Lion Air im Oktober waren insgesamt 346 Menschen ums Leben gekommen. In beiden Fällen spielte eine Stabilisierungselektronik namens MCAS eine Rolle, wie Boeing-Chef Dennis Muilenburg im April einräumte.
Luftfahrtbehörde prüft 737 Max genau
„Die technische Änderung des MCAS ist inzwischen längst abgehakt“, so Großbongardt, „es geht jetzt noch darum, wie das Training für die Piloten dafür aussehen wird.“ Währenddessen hat die US-Luftfahrtbehörde FAA aber eine Reihe anderer Bauteile des Flugzeugs noch einmal genauer unter die Lupe genommen und offenbar weitere Mängel gefunden. „Es will sich nun niemand vorwerfen lassen, er habe leichtfertig etwas entschieden“, sagt Großbongardt – schließlich war die Art, wie das MCAS seine FAA-Zulassung erhalten hatte, in die Kritik geraten. Nicht zuletzt wegen der Lieferverzögerungen verbuchte Boeing im zweiten Quartal eine zusätzliche Belastung von 4,9 Milliarden Dollar (4,4 Milliarden Euro) nach Steuern.
Auch wenn Airbus in diesem Jahr mehr Flugzeuge ausliefert als Boeing, ändert das noch nichts daran, dass die Produkte der Amerikaner im weltweiten Ziviljet-Bestand noch immer die Mehrheit stellen (siehe Grafik). Doch die Dominanz von Boeing dürfte allmählich abnehmen – nicht nur, weil überproportional viele Bestands-Flieger dieses Herstellers auf Typen entfallen, deren Produktion schon vor etlichen Jahren endete. Wegen der aktuellen Probleme muss Boeing ein immer attraktiveres Segment des Marktes derzeit allein Airbus überlassen: Kleinere Flugzeuge mit einer Reichweite, die zum Beispiel für Transatlantikrouten genügt.
Langstrecken-A321 schafft mehr Arbeit
Seit dem Produktionsende der Boeing 757 im Jahr 2004 wurde dieses Marktsegment nicht mehr bedient, bis Airbus im November den ersten A321LR auslieferte. Im Jahr 2023 soll die Version A321XLR mit einer nochmals auf 8700 Kilometer verlängerten Reichweite kommen. Auf die Beschäftigung im Werk Hamburg wirken sich diese Modelle positiv aus: Wegen der aufwendigeren, langstreckentauglichen Kabine erfordern sie 30 bis 40 Prozent mehr Arbeit als ein Standard-A321.
„Airbus hat mit dem A321XLR die Möglichkeiten eines Schmalrumpfflugzeugs ausgereizt“, sagt Großbongardt: „Mehr geht nicht.“ Boeing stoße bei der 737 Max ebenfalls schon an die Grenzen und könnte also nur mit einem völlig neu entwickelten Typ, intern NMA genannt, gegenhalten. Ursprünglich hatten Branchenkenner mit einem Startschuss des Programm noch im Jahr 2019 gerechnet. „Für einen Finanzchef ist es aber keine leichte Entscheidung, in der aktuellen Situation acht oder zehn Milliarden Dollar für so etwas freizugeben“, so Großbongardt. „Ich vermute, man wird das nicht vor dem Sommer nächsten Jahres beschließen.“ Das Ziel, 2025 mit dem neuen Jet auf den Markt zu kommen, wäre dann wohl nicht mehr zu halten.