Hamburg. Warum die deutsche Wind-Branche in der Krise steckt. Der Markt bricht ein – und die Senvion meldete sogar Insolvenz an.
Fachleute hatten ein schlechtes Jahr erwartet, aber es kam noch deutlich schlimmer: 2018 hat sich die neu gebaute Windenergie-Kapazität in Deutschland gegenüber dem Vorjahr praktisch halbiert. Dabei betraf der deutliche Rückgang sowohl die Windparks an Land (Onshore) wie auch die Anlagen auf See (Offshore). Angesichts der äußerst schwachen Jahresbilanz sprach Wolfram Axthelm, Geschäftsführer des Bundesverbands Windenergie (BWE), von einer „dramatischen Situation“ – und erwartet für 2019 keine Besserung. Der BWE und der Branchenverband der Anlagenhersteller rechnen bei den Neuinstallationen an Land sogar mit einem weiteren Rückgang von 2400 Megawatt (MW) Stromerzeugungskapazität im Jahr 2018 auf nur noch knapp 2000 MW.
Wegen der Flaute bei neuen Projekten im Inland haben die deutschen Turbinenbauer bereits in den beiden zurückliegenden Jahren Arbeitsplätze abgebaut. Auch der Standort Hamburg, wo vier der weltweit führenden Hersteller – Siemens Gamesa, Nordex, Senvion und GE – entweder ihren Hauptsitz oder Teile ihres Hauptsitzes haben, ist betroffen. Seit Ende 2016 fielen bei Nordex und Senvion fast 200 Jobs weg, Siemens Gamesa kündigte im April 2018 für Deutschland den Wegfall von 213 Stellen vor allem in Hamburg und Bremen an.
Vor allem Ausschreibungen sorgen für heftigen Preisdruck
Senvion musste kürzlich sogar den Antrag auf ein Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung einreichen. Dass es dieses Unternehmen besonders hart traf, hat zwar mit Verzögerungen bei der Realisierung großer Projekte zu tun. Alle Hersteller aber leiden gleichermaßen unter Rahmenbedingungen, die sie nicht beeinflussen können. So sind die meisten Staaten von festen Stromeinspeisevergütungen auf ein Ausschreibungssystem übergegangen, bei dem derjenige Windparkbetreiber, der mit den niedrigsten Subventionen auskommen will, den Auftrag erhält. Das erhöht überall den Preisdruck – aber in Deutschland gab es eine Besonderheit, die für den drastischen Rückgang der Neuinstallationen sorgte. Welche das ist, erklärt Nils Driemeyer, Leiter Erneuerbare Energien bei der Hamburg Commercial Bank: „Verantwortlich für den Einbruch des Zubaus sind Vorzieheffekte, weil Betreiber noch von dem ‚alten‘ Erneuerbare-Energien-Gesetz profitieren wollten, sowie Genehmigungsschwierigkeiten: In den Ausschreibungen erhielten auch Projekte einen Zuschlag, die noch keine Genehmigung hatten“ – und ein großer Teil davon wird sie wohl auch in absehbarer Zeit nicht bekommen. „Für die gesamte Branche in Deutschland ist das ein großes Problem“, so Driemeyer. „Wir würden sehr gern mehr Wind-Projekte in Deutschland finanzieren, aber es gibt derzeit nur wenige.“
Erneuerbare Energien steuerten 35 Prozent zur Stromproduktion bei
Weil gleichzeitig alte Anlagen das Ende ihrer Lebensdauer erreichen, hat die gesamte Stromerzeugungskapazität aus allen deutschen Windparks zuletzt nur geringfügig zugenommen. Dabei ist es noch immer das Ziel der Bundesregierung, vor dem Hintergrund des Klimawandels den Anteil der Erneuerbaren Energien an der Stromproduktion bis 2030 auf 65 Prozent zu steigern – 2018 lag er aber erst bei 35 Prozent.
Für die Zukunft der Windindustrie in Deutschland sei es „entscheidend, dass die Bundesregierung umgehend für einen ambitionierteren und verlässlichen Ausbaupfad sorgt“, sagte Meinhard Geiken, Leiter des Bezirks Küste der IG Metall: „Anders sind die Klimaschutzziele nicht zu erreichen und anders lassen sich auch Arbeitsplätze und Wertschöpfung in der Branche nicht sichern.“ Daher fordern die Betriebsräte der Branche und die Gewerkschaft von der Bundesregierung die Ausschreibung von jährlich 5000 MW Windenergie-Kapazität an Land und einen Offshore-Zubau von insgesamt 20.000 MW bis 2030. Zwar gibt es weltweit noch andere bedeutende Wind-Märkte. China, der mit Abstand größte, ist aber weitgehend abgeschlossen, ausländische Hersteller bekommen dort nur selten eine Chance. Hinzu kommt: Wegen der hohen Transportkosten vor allem der Rotorblätter mit ihren bis zu rund 100 Metern Länge sind Lieferungen aus Europa in Wachstumsmärkte wie Indien oder die USA wenig attraktiv. „Wir sind zu europalastig, was die Produktion angeht“, sagte Nordex-Chef José Luis Blanco kürzlich. Derzeit würde das Unternehmen daher unter anderem Fertigungsstätten für Rotorblätter in Indien und in Mexiko aufbauen.
Fusionen prägen das Bild in der Branche
Ausgelöst durch den Preisdruck, der aus dem Übergang von festen Vergütungen auf Ausschreibungsverfahren resultiert, gab es in den zurückliegenden vier Jahren in der Branche bereits drei Zusammenschlüsse unter Beteiligung deutscher Hersteller: Die Siemens-Windsparte mit Hauptsitz in Hamburg fusionierte mit Gamesa aus Spanien, Nordex übernahm die Windenergie-Tochter des spanischen Acciona-Konzerns und Enercon aus Aurich erwarb den niederländischen Turbinenbauer Lagerwey.
Auf eine solche Lösung hofft man auch bei Senvion. „Wir sehen deutliches Interesse an Senvion“, sagte Firmenchef Yves Rannou der Nachrichtenagentur Reuters: „Auch die Großen unserer Branche schauen sich das aufmerksam an.“ Rund zwei Monate vor dem Insolvenzantrag hatte das Hamburger Privatbankhaus Berenberg in einer Analystenstudie auf die erhöhten Risiken aufgrund von Projektverzögerungen hingewiesen, aber auch Fortschritte in den zurückliegenden Quartalen bei neuen Produkten und dem Eintritt in dynamisch wachsende Märkte wie Indien und Lateinamerika hervorgehoben.
Genehmigungen in Deutschland sind sehr konkret
Diese Staaten gewinnen derzeit für deutsche Hersteller schon wegen der bremsenden Rahmenbedingungen auf dem Heimatmarkt an Bedeutung. Zu den Hemmschuhen gehört die Genehmigungspraxis. „In Deutschland bezieht sich die Genehmigung auf ein bestimmtes Turbinenmodell“, sagt Driemeyer: „Das aber kann, wenn sich die Realisierung einige Jahre hinzieht, schon technisch überholt sein. In anderen Ländern Europas werden Rahmendaten wie die Kapazität und die Höhe der Anlagen genehmigt.“ Zudem ermögliche es die aktuelle Rechtsprechung, „durch eine Reihe von Klagen den Bau neuer Anlagen sehr lange zu verzögern“ – und inzwischen wird fast jeder Windpark beklagt.
Allerdings gilt die deutsche Erneuerbare-Energien-Industrie in der Szene weiter als äußerst innovativ – und Hamburg spielt eine wichtige Rolle. Das gilt nicht zuletzt für Möglichkeiten der Speicherung von Windstrom. Auf dem Gelände des Aluminiumherstellers Trimet in Altenwerder will Siemens Gamesa Mitte 2019 eine neuartige Lösung in Betrieb nehmen: Etwa 1000 Tonnen Gestein werden auf 600 Grad Celsius erhitzt, bei Bedarf erzeugt eine Dampfturbine später aus der Hitze wieder Strom. „Auch andere Ansätze für die so genannte Sektorenkopplung wie etwa die Erzeugung von Wasserstoff mittels Windstrom finden wir sehr spannend“, so Driemeyer. „Hier erwarten wir künftig noch einiges mehr.“
GE arbeitet an einem Rotor mit 220 Metern Durchmesser
Dank immer größerer Windturbinen – für Anlagen auf See experimentiert die Offshore-Sparte von GE mit Sitz in Hamburg mit einem Rotordurchmesser von 220 Metern und einer Kapazität von zwölf MW, Rekordhalter im Onshore-Bereich ist Siemens Gamesa mit einem 170-Meter-Prototypen für 5,8 MW – sollen die Stromerzeugungskosten schon bald auf dem Niveau anderer Energiequellen liegen. Das lockt Technologiefirmen wie Google, Amazon und Facebook, die immer häufiger Abnahmeverträge mit Windparks für ihre stromhungrigen Computerserver-Zentren schließen.
Nordex-Chef Blanco sieht für den deutschen Markt sogar Licht am Ende des Tunnels. Bereits im nächsten Jahr könne eine allmähliche Erholung einsetzen, erwartet er. Siemens Gamesa hat nach eigenen Angaben aktuell in Hamburg und im neuen Werk in Cuxhaven mehr als 100 offene Stellen. Nordex sucht für das Rotorblatt-Werk in Rostock Mitarbeiter, wobei Blanco auf eine neue Onshore-Turbinengeneration setzt, die bei einem Rotordurchmesser von 149 Metern und einem vergleichsweise niedrigen Geräuschpegel immerhin eine Kapazität von 5,5 MW erreicht. „Wir hätten die Technologie, noch größere Anlagen zu bauen“, so Blanco, „aber in relativ dicht besiedelten Regionen zum Beispiel in Deutschland und Frankreich wird die Akzeptanz durch die Bürger immer mehr zur Herausforderung.“