Schon in der achten Klasse hat Charles Bahr eine Marketingagentur gegründet. Er arbeitet für Levi's, Ferrero, Pizza Hut und Allianz.

Es ist kurz nach zehn Uhr, als Charles Bahr die Lobby eines Hamburger Hotels betritt. Er zieht einen Rollkoffer hinter sich her, geht schnell. Denn er ist spät dran. Um kurz nach fünf ist er heute aufgestanden, wie fast jeden Tag. Zwei Wecker stellt er immer. Weit genug vom Bett entfernt, damit er auch wirklich aufsteht.

Er braucht die Zeit, damit er in Ruhe joggen und meditieren kann, bevor er zur Arbeit fährt. Um acht Uhr hatte er heute Morgen die erste Besprechung. Um 19 Uhr am Abend hat er die letzte. In München. Weil er es vorher nicht mehr nach Hause schafft, hat er seinen Koffer schon mitgenommen. War nicht viel zu packen, er ist nur eine Nacht weg. Eine Jeans, zwei Hemden. Kein Anzug, keine Krawatte. Das Waschzeug war noch vom letzten Mal im Koffer.

Es gibt Monate, da packt er den Koffer zwischen den Reisen nicht aus, tauscht nur die Klamotten. Jetzt ist wieder so ein Monat. Um 18.30 Uhr heute abend fliegt er nach München, um 21.30 Uhr von dort nach Berlin. Normalerweise nimmt er die Bahn, immer, wenn es geht. Aber es geht nicht immer. Manchmal sind die Termine zu weit voneinander entfernt, zeitlich zu eng getaktet. Neulich waren es in einer Woche zehn Termine in fünf Städten. Seit vergangenem Jahr hat er bei Lufthansa Senator Status. Weil er mehr als 100.000 Meilen innerhalb eines Jahres gesammelt hat.

Auch wenn es merkwürdig klingt: Er ist ein großer Fan von Klimaaktivistin Greta und Fridays for Future, war auf der Demo in Hamburg. Er würde sich auch gerne dort engagieren, hat schon probiert, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Ohne Erfolg. Denn Greta ist noch beschäftigter als er mit seiner Agentur und den ganzen Vorträgen. Vor ein paar Wochen ist Charles Bahr 17 Jahre alt geworden.

Charles Bahr berät Firmen wie Levi's, Pizza Hut und Allianz

Manchmal kommt ihm das selbst noch ein bisschen komisch vor. Dass er Firmen wie Levi's, Ferrero, Pizza Hut oder der Allianz sagt, wie sie Werbung machen könnten. Wie sie Jugendliche erreichen. Obwohl er selbst doch noch ein Teenager ist. „Normalerweise probieren die Leute, in die Köpfe von Jugendlichen zu schauen, um zu begreifen, wie sie ticken. Das, was sie sich für uns ausdenken, hat aber mit unserer Lebenswelt meistens nichts zu tun. Ich muss nur bei mir selbst in den Kopf gucken. Das macht es leichter“, sagt Charles Bahr.

Er trägt Jeans, einen Pullover von Polo Ralph Lauren, weiße, ausgetretene Turnschuhe. Es waren die erstbesten, die er im Geschäft gefunden hat. Die Marke ist ihm egal, Hauptsache, sie sind weiß. Er hat keine Zeit und keine Lust, lange nach einem bestimmten Modell zu suchen. Statussymbole spielen für ihn keine Rolle.

„Ich habe Glück, dass ich aus einem Teil Hamburgs komme, wo das nicht so wichtig ist“, sagt er. „Dadurch, dass hier jeder eine gewisse Grundsicherheit hat, vergleicht man sich nicht so sehr mit anderen.“ Oder er nimmt das nicht wahr. Es interessiert ihn nicht, was andere über ihn denken. Er wohnt in Eppendorf, seine Mutter ist Lehrerin, sein Vater Vertriebstrainer. Zwei Zimmer in der Wohnung sind untervermietet. Er findet das gut, weil er so immer andere Leute kennenlernt, andere Kulturen.

"Facebook ist das Medium unserer Eltern"

Vor drei Jahren, da war Charles Bahr gerade in der achten Klasse, hat er sich zum ersten Mal gefragt, warum die Firmen Hunderttausende für Werbung auf Facebook ausgeben, die er und seine Freunde gar nicht wahrnehmen. Warum denen niemand sagt, dass Jugendliche nicht auf Facebook unterwegs sind, ganz anders ticken. „Facebook ist das Medium unserer Eltern. Es wäre uncool, da auch zu sein“, sagt Charles.

Aus einer Frage wurde ein Vorhaben. Aus dem Warum ein Jemand. „Jemand müsste denen mal sagen, dass …“ Immer wieder haben sie so dahergeredet, er und seine Freunde. Bis er selbst dieser Jemand wurde. Bis er tubeconnect media gründete – oder „The Gen Z agency“, wie er die Firma auch nennt. Er war damals 15 und einer der jüngsten Unternehmer Deutschlands.

Seinen Laptop hat er immer dabei.
Seinen Laptop hat er immer dabei. © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez

Seine Firma macht Marketing von Teenagern für Teenager

Charles Bahr spricht meistens von tubeconnect, fast nie von „seiner Firma“. Weil die Firma, rein rechtlich gesehen, nicht ihm gehört, sondern seiner Mutter. Als 17-Jähriger darf er keine Firma leiten. Er darf noch nicht mal alleine verreisen, sondern braucht jedes Mal eine schriftliche Reisevollmacht seiner Mutter. Die hat er immer bei sich, in einer durchsichtigen Plastikhülle. Anfang nächsten Jahres, wenn er 18 wird, bekommt er die Unternehmensanteile übertragen. Früher gab es mal die Abmachung mit seiner Mutter, dass er die Anteile nach dem Abitur bekommt. Da hat er noch ein Gymnasium in Eppendorf besucht. Heute nicht mehr. Er ist nach der 10. Klasse abgegangen. Seine Mutter, sagt er, hat ihn immer bedingungslos unterstützt: „Meine Mutter ist die Person, der ich am meisten dankbar bin im Leben.“

Seit August macht er eine duale Ausbildung zum Marketingkaufmann. In seiner eigenen Firma. Seitdem ist er Azubi und Chef gleichermaßen. Obwohl er sich selbst nicht so sieht, als Chef. „Ich bin Teil des Teams, wie jeder andere Teenager, der da arbeitet“, sagt Charles Bahr. Trotzdem: Er ist derjenige, der die Entscheidungen trifft. Auch wenn es offiziell einen volljährigen Geschäftsführer gibt. Viele Mitarbeiter sind selbst noch Teenager, die meisten zwischen zwölf und 16 Jahren alt. Ab 15 arbeiten sie meist regelmäßig. Jede Woche bekommt Charles Bahr E-Mails von Jugendlichen, die bei ihm mitarbeiten wollen. Zu viele, um alle zu beschäftigen.

Charles Bahr bezeichnet sich als Social Native

„Wir repräsentieren die Generation Z, die zwischen 1995 und 2010 geboren wurde“, sagt Charles Bahr. Er ist Jahrgang 2002 und ein Social Native, wie er sich bezeichnet. Jemand, der mit den sozialen Medien groß geworden ist. Er selbst hat mit sechs sein erstes Handy bekommen und mit elf die ersten eigenen Videos bei YouTube hochgeladen. Von seinem Hund Cookie. Seine Mutter wollte damals nicht, dass er Filme von sich selbst ins Netz stellt. Heute ist das Internet voll mit Filmen von ihm.

Seine Agentur macht Marketing von Teenagern für Teenager und versteht sich als eine Art Unternehmensberatung, die Marketingabteilungen zu bestehenden Werbemaßnahmen berät und eigene Ideen für große Marken umsetzt. Für Levi's zum Beispiel. Einst der Inbegriff von Jeanskultur, galt die 160 Jahre alte Marke unter Jugendlichen lange als angestaubt.

Charles Bahr und sein Team sollten herausfinden, wie man Jugendliche wieder in die Geschäfte lockt. „Uns war schnell klar, dass wir die bestehenden Shops nicht einfach an die Bedürfnisse von Teenagern anpassen können – sondern einen komplett neuen Generation-Z-Store konzipieren müssen“, sagt Charles Bahr. Er trägt selbst eine Levi's Jeans – ein Geschenk.

500 Jugendliche sind bei ihm registriert

Wenn er von „wir“ und „uns“ spricht, meint er nicht nur sich und seine zehn Mitarbeiter, sondern vor allem die Leute seiner Fokusgruppen. 500 Jugendliche zwischen elf und 21 Jahren sind bei ihm registriert, jeder von ihnen musste einen Fragebogen ausfüllen und ein 30-sekündiges Bewerbungsvideo von sich drehen. „Auf Basis dieser Daten haben wir die Leute verschiedenen Clustern zugeordnet“, sagt Charles Bahr. Das Alter spielte bei dieser Einteilung keine Rolle. Sondern das Verhalten, die Vorlieben. Da gibt es die Undergrounder, die stark antikapitalistisch denken, die Gamer, die am liebsten am Computer spielen und ungern rausgehen, und schließlich die Meinungsmacher. Er selbst würde sich Macher bezeichnen.

Für Levi's wurden 25 Jugendliche aus unterschiedlichen Clustern in zwei- bis dreistündigen Interviews befragt, wie die Marke an Coolness gewinnen kann und wie das Geschäft der Zukunft aussehen muss. „Klar, das hatte vor uns im Auftrag von Levi's auch schon eine andere Agentur gemacht. Die haben unter anderem empfohlen, dass die Mitarbeiter eine Playlist mit ihren Lieblingsliedern erstellen, die im Laden läuft, und im Store Buchempfehlungen gegeben werden sollen“, sagt Charles Bahr. Er will das nicht bewerten, auf keinen Fall als Besserwisser rüberkommen. Er macht den Unternehmen nur Vorschläge. Sie entscheiden, ob sie diese umsetzen.

Levi's hat seine umgesetzt. In Rotterdam wurde ein „Gen Z Innovation Store“ kreiert. Die Kollektion ist eingeschränkt, ausgestellt wird nur das, was für Jugendliche interessant ist – Schuhe gehören nicht dazu, die kaufen Jugendliche vorwiegend von Nike, Adidas, Puma, Converse, Under Armour, New Balance. Außerdem gibt es besonders große und helle Umkleidekabinen, in denen man gut Selfies machen kann. In den Kabinen gibt es kostenloses WLAN und Aufladestationen fürs Handy. Das Highlight im Laden sei aber die Social Media Wall über der Kasse, wo Kunden Fotos von sich aus dem Levi's Store veröffentlichen können. In den Niederlanden geht das neue Konzept auf. In diesem Jahr soll das erste Geschäft in Düsseldorf eröffnet werden, weitere sind in Planung.

Das Konzept steht über dem Influencer

Die Entwicklung eines Werbekonzepts ist nur ein Teil seiner Arbeit. Danach geht es darum, „die Story“, wie er es nennt, zu verbreiten. Über Influencer, also Akteure in den sozialen Medien, die viele Fans, sogenannte Follower, haben. „Für uns steht das Konzept über dem Influencer. Das bedeutet, dass nicht nur seine Persönlichkeit entscheidend ist, sondern vor allem auch, welche Inhalte er vermittelt und in welchem Verhältnis er zu seiner Community steht“, so Charles Bahr.

Entscheidend für ihn und sein Team ist die Interaktionsrate, die anzeigt, wie viele Besucher einer Internetseite auf die Inhalte reagieren – zum Beispiel mit Kommentaren oder Likes. „Eine Interaktionsrate von mehr als einem Prozent gilt in der Branche als gut“, sagt Charles Bahr. Bei seinen Influencern liegt sie bei 5,1 Prozent. Er arbeitet mit etwa 500 sogenannten Youngfluencern zusammen, besonders jungen Influencern. Dalia zum Beispiel. Sie ist 17 Jahre alt und hat mehr als 2,9 Millionen Follower. Charles selbst ist kein Influencer. Auf Twitter hat er 1769 Follower.

Sein Tagessatz liegt bei 1200 Euro

Es gab Zeiten, ganz am Anfang, da hat er weniger verdient, als er bei jedem Minijob bekommen hätte. 500 Euro waren es bei seinem ersten Auftrag für ein Start-up, das in der Szene von ihm gehört hatte. 500 Euro für zwei Wochen Arbeit. Da kannte ihn noch niemand, später schon. Später, als die ersten Berichte über ihn erschienen, er die ersten Vorträge hielt, größere Aufträge bekam. Irgendwann waren es 800 Euro für einen Auftrag, dann 800 Euro am Tag. Heute hat er eine richtige Preisliste, auf der das Honorar festgelegt ist. Im Moment liegt der Tagessatz bei 1200 Euro. Seine Mitarbeiter verdienen „ein sehr gutes Taschengeld“, wie er es nennt. Die Teilnehmer der Fokusgruppe erhalten als Aufwandsentschädigung ein Geschenk, oft von den jeweiligen Marken, die beraten werden. Worum es sich handelt, das wissen die Teilnehmer vorher nicht. Damit sie motivierter sind, so die Philosophie von Charles Bahr.

Im vergangenen Jahr hat er ein Kampagnen-Volumen im siebenstelligen Euro-Bereich generiert – gemeinsam mit einer Partneragentur, mit der er bis vor Kurzem kooperiert hat. Doch jetzt geht Charles Bahr eigene Wege. Im April bezieht er mit seinem Team ein Büro am Hauptbahnhof. Es ist sein erstes eigenes Büro. Bisher hatte seine Agentur nur einen Raum zur Untermiete, oder Charles Bahr traf sich im Coffeshop mit seinen Mitarbeitern.

Bahr war anfangs zu jung für ein Xing-Profil

Er macht das immer noch häufig, von unterwegs aus arbeiten. Am Flughafen, im Taxi oder der Bahn, in den Pausen der Berufsschule. Egal wo, er braucht ja nicht viel. Smartphone und Laptop. Oft nutzt er die Diktierfunktion. Wenn er was tippt, dann meistens mit zwei Fingern. Dieses Jahr, das hat er sich vorgenommen, will er das Zehnfingersystem lernen. Damit es schneller geht, effektiver. „Was ich nicht im Handy notiert habe, das geht verloren“, sagt Charles.

Im Internet, bei Twitter, ist er als @EinfachCharles registriert. Vor sechs Jahren ist er dem Kurznachrichtendienst beigetreten. Da war er gerade mal elf Jahre. „Your age is just a number. It says nothing about how ready you are”, hat er mal gesagt. (Übersetzt: Dein Alter ist nur eine Zahl. Es sagt nichts darüber aus, wie bereit du bist). Damals hatte das Business-Netzwerk Xing sein Profil gesperrt, weil er noch minderjährig war. Inzwischen hat Xing eingelenkt und sein Profil freigegeben.

Charles entschuldigt sich, er muss kurz telefonieren. Der nächste Termin! Er ist zum Essen verabredet. Mit seiner Mutter.