Hamburg. In weiten Teilen der Welt gibt es ein Flugverbot für die 737 MAX. Welche Folgen die Maßnahme für die Passagiere und die Branche hat.

Es ist die schärfste Maßnahme in der Luftfahrt: Die Aufsichtsbehörden in Europa und weiten Teilen der Welt haben für die Boeing 737 MAX ein Flugverbot verhängt. Zuletzt gab es diese Maßnahme vor sechs Jahren – das Abendblatt beantwortet die wichtigsten Fragen zum Thema.

Was ist eine Boeing 737 MAX 8?
Der US-Flugzeughersteller Boeing baut den Kurz- und Mittelstreckenjet 737 seit gut fünf Jahrzehnten. Im April 1967 feierte die Maschine ihren Jungfernflug, im Dezember desselben Jahres erhielt die Lufthansa als erste Airline den Flieger für ihre Flotte. Die 737 ist das am meisten verkaufte Verkehrsflugzeug. 10.510 Maschinen wurden bisher ausgeliefert. Die MAX-Variante ist die vierte Generation und damit das neueste Modell der Reihe – mit zahlreichen Veränderungen. „Eine Boeing 737 MAX hat mit den frühen 737 aus den 1960er-Jahren außer dem Rumpfquerschnitt und der Höhe des Fahrwerks technisch gar nichts mehr zu tun. Das sind völlig unterschiedliche Flugzeuge“, sagt der Hamburger Luftfahrt­experte Heinrich Großbongardt.

Das fängt bei der Größe an: Die Lufthansa erhielt damals eine 28,65 Meter lange Maschine. Die 737 MAX ist in all ihren Varianten 7 bis 10 deutlich größer, die Längen reichen von 35,56 Metern bis zu 43,8 Metern. Die MAX 8 misst 39,52 Meter. Zudem haben die Tragflächen eine andere Geometrie, Bordelektronik und Klimaanlagen sind komplett erneuert worden, die Passagiere nehmen auf anderen Sitzen Platz, und die Triebwerke sind modernster Generation. Ähnlich wie bei der Airbus-A320neo-Familie, die zu mehr als der Hälfte auf Finkenwerder endmontiert wird, sollen die Motoren den Spritverbrauch deutlich senken. Die 737 MAX 8 wurde im Mai 2017 erstmals ausgeliefert, Kunde war Malindo Air aus Malaysia. Am ehesten vergleichbar ist sie mit dem A320neo von Airbus.

Warum gibt es das Flugverbot?
Boeing musste binnen weniger Monate gleich zwei Abstürze der Boeing 737 MAX 8 hinnehmen. Am vergangenen Sonntag zerschellte eine Boeing 737 MAX von Ethiopian Airlines sechs Minuten nach dem Start in Addis Abeba. 157 Menschen an Bord starben. Die Unglücksursache ist noch ungeklärt. Bilder vom Unfallort deuten darauf hin, dass sich die Maschine mit hoher Geschwindigkeit fast senkrecht in den Boden gebohrt hat. Bereits am Montag handelte Chinas Luftaufsichtsbehörde und sprach ein Startverbot für die Maschine aus. Es gebe „gewisse Ähnlichkeiten“ mit dem Absturz eines baugleichen Typs fünf Monate zuvor.

Im Oktober 2018 stürzte eine Boeing 737 MAX 8 von Lion Air in Indonesien kurz nach dem Start ab. 189 Menschen an Bord starben. Beide Flüge waren bei gutem Wetter kurz nach dem Start in Schwierigkeiten gekommen. Ermittler vermuten, dass bei dem Lion-Air-Unglück eine neue Steuerungssoftware eine entscheidende Rolle gespielt haben könnte. Der US-Hersteller entwickelte für das Flugzeug ein neues Stabilisierungsprogramm namens MCAS. Es wurde eingebaut, weil die Triebwerke der 737 MAX größer, weiter vorn und höher angebracht sind als bei der alten Variante.

Das kann das Flugverhalten verändern. Um einen Strömungsabriss zu verhindern, drückt das MCAS unter bestimmten Umständen die Nase des Fliegers automatisch durch eine Steuerung des Höhenruders nach unten. „Sollte das MCAS auch für den Unfall in Äthiopien verantwortlich sein, wäre das Problem relativ leicht zu lösen“, sagt Großbongardt. „Wenn eine neue Software entwickelt und ausführlich getestet wurde, kann sie praktisch über Nacht aufgespielt werden.“ Boeing kündigte ein Software-Update in den nächsten Wochen an. Das Flugverbot gilt auch für die größere Schwester MAX 9, in Deutschland ist es zunächst für drei Monate bis 12. Juni befristet.


Darf der Jet nirgendwo mehr starten?
Am Dienstag reagierten eine Reihe von Ländern wie Großbritannien, Frankreich und Deutschland und verhängten ein Startverbot. Am Abend entschloss sich dann die europäische Luftaufsichtsbehörde EASA dazu. Auch in Indien, Australien und den Emiraten und damit in weiteren Teilen der Welt wurde die Flugerlaubnis entzogen. In den USA dauerte es bis zu dieser Entscheidung etwas länger: Erst am Mittwochabend ordnete US-Präsident Donald Trump an, alle Maschinen des umstrittenen Flugzeugtyps Boeing 737 MAX in den USA am Boden zu lassen.

Die US-Flugaufsichtsbehörde FAA hatte die Maschinen bis dahin noch für flugtauglich gehalten. Begründung: Bislang hätten die Überprüfungen der Behörde keine „systemischen Leistungsprobleme“ bei dem Flugzeugtyp und keine Grundlage für ein Startverbot ergeben, sagte FAA-Chef Daniel Elwell. Die Luftfahrtbehörden anderer Länder hätten der FAA keine Daten zur Verfügung gestellt, die Maßnahmen erforderlich machten, hatte es zunächst geheißen. Bis April soll Boeing konzeptionelle Änderungen am Flugzeug umsetzen, wie das Software-Update.

Dass FAA und EASA nicht an einem Strang ziehen, ist ungewöhnlich. Normalerweise tragen die Europäer die Entscheidungen der FAA mit. Großbongardt macht dafür politischen Druck aus: „Nachdem mehrere europäische Staaten ein solches Flugverbot verhängt hatten, blieb der Behörde nichts anderes übrig, als nachzuziehen. Die FAA hatte diesen Druck nicht.“ Am Abend untersagte auch das US-Nachbarland Kanada der 737 MAX Flüge.

Ungewöhnlich ist ein Vorhaben von Ethiopian Airlines. Der Flugschreiber der verunglückten Maschine soll nicht wie sonst üblich im Herstellerland untersucht werden, sondern in Europa, so die Airline. Aus den Aufzeichnungen des Sprechfunks der Piloten und aller Flugdaten erhofft man eine Klärung der Unglücksursache.

Gibt es Auswirkungen für Fluggäste?
Kurzfristig werden keine umfassenden Flugstreichungen erwartet. Bisher wurden erst 376 Boeing 737 MAX ausgeliefert, der Anteil des Fliegers in der Flotte der Airlines ist gering. Andere Maschinen können eingesetzt werden, zumal im März nicht gerade Hochsaison herrscht. Bei Bedarf können Flugzeuge von Chartergesellschaften gemietet werden. Der Billigflieger Norwegian, der auch Hamburg anfliegt, kündigte an, Flüge zusammenzulegen, um die Auswirkungen möglichst gering zu halten. Der Betreiber von 18 Maschinen und damit der größten 737-MAX-Flotte in Europa will wegen der Ausfälle Schadenersatz gegen Boeing stellen.


Wie häufig werden Jets gegroundet?
„Das ist die schärfste Maßnahme, die eine Flugsicherheitsbehörde beschließen kann“, sagt Großbongardt. „So etwas ist schon außergewöhnlich und kommt eher selten vor.“ Zuletzt sprach die FAA im Januar 2013 ein solches striktes Startverbot für Jets des Typs Boeing 787 aus, nachdem kurz hintereinander in zwei Flugzeugen des Typs die für die Luftfahrt neuartigen Lithium-Ionen-Batterien in Brand geraten beziehungsweise eine Rauchwarnung ausgelöst hatten. Erst drei Monate später durften 787-Jets wieder starten. Dies war das erste Flugverbot der FAA seit 1979; damals war die McDonnell Douglas DC-10 betroffen. In den Jahren seit 1972 hatte es drei Abstürze der dreistrahligen Maschine gegeben, wobei sich in zwei Fällen eine Frachtluke im Flug geöffnet hatte. Das sogenannte „Grounding“ der DC-10 dauerte gut einen Monat.

Sperrungen nach Boeing-Absturz

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    Die EASA sprach 2016 für gut vier Monate ein Startverbot für bestimmte Versionen des „Super Puma“-Hubschraubers von Airbus Helicopters aus. Auch hier war ein tödlicher Unfall vorausgegangen. Die zweitschärfste Anweisung der Flugsicherheitsbehörden verpflichtet die Betreiber von Fluggeräten, kurzfristig bestimmte Überprüfungen vorzunehmen, ohne die das Flugzeug oder der Hubschrauber nicht mehr starten darf. Hiervon waren 2012 alle 68 der damals bereits ausgelieferten Airbus A380 betroffen. Ursache war die Entdeckung von Rissen an den Befestigungen der Flügelrippen.


    Gab es bei Airbus ähnliche Probleme?
    In den ersten fünf Jahren nach der Markteinführung des A320 im März 1988 kam es zu vier Unglücken mit insgesamt 184 Todesopfern. Zwei der Unglücke veranlassten Airbus, jeweils technische Änderungen vorzunehmen. Nach Auffassung des Branchenexperten Großbongardt standen einige der damaligen Unfälle in Zusammenhang mit dem Technologiesprung beim A320 – der Airbus war der erste Passagierjet mit Computersteuerung („Fly by Wire“). „Man hat nicht bedacht, dass man die Piloten dafür ganz anders schulen muss“, so Großbongardt. Nach dem Beginn des Flugbetriebs mit der modernisierten Variante des A320, dem A320neo, im Januar 2016 gab es erhebliche Zuverlässigkeitsprobleme mit bestimmten Baureihen der neuartigen Triebwerke. Im Februar 2018 verhängte die EASA ein Betriebsverbot für Jets, bei denen beide Motoren aus den betroffenen Serien stammen.


    Kann Airbus von den Problemen bei Boeing profitieren?
    Großbongardt hat auf diese Frage eine klare Antwort: „Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.“ Für die Einschätzung gibt es ganz praktische Gründe: „Das Konkurrenzmodell von Airbus ist für die nächsten sechs oder sieben Jahre ausverkauft. Ein Boeing-Kunde, der jetzt umschwenken wollte, müsste sich hinten anstellen.“ Solange die Fluggesellschaften das Vertrauen nicht verlören, dass Boeing das Problem mit der gebotenen Dringlichkeit und Gründlichkeit angehe, würden sich die Kunden nicht abwenden. Selbst aufgrund des immerhin drei Monate dauernden Startverbots der Boeing 787 wegen der Batteriedefekte habe es „praktisch keine Abbestellungen“ gegeben.

    Der Boeing-Aktienkurs hat allerdings vom Freitag bis zum Mittwochnachmittag um zehn Prozent nachgegeben. Die Nord/LB hat die Boeing-Aktie von „Halten“ auf „Verkaufen“ herabgestuft und das Kursziel von 440 Dollar auf 300 Dollar gekappt. Der erneute Absturz einer 737 MAX 8 sei für das Image des US-Konzerns ein „Super-GAU“, schrieb Analyst Wolfgang Donie in einer am Mittwoch veröffentlichten Studie. Es müsse von Auslieferungsverzögerungen oder Stornierungen von Aufträgen ausgegangen werden. Insgesamt seien die Belastungen momentan „nicht seriös abschätzbar“.