Hamburg. Führende Anbieter bauten nach Auftragsflaute 2017 Hunderte Jobs in der Hansestadt ab

Jahrelang herrschte in der Windenergie-Branche geradezu Goldrauschstimmung – und Hamburg gilt als internationale Hochburg dieses Wirtschaftszweigs. Projektentwickler, Finanzierer und auch mehrere Anlagenhersteller sind hier vertreten. Doch im vergangenen Jahr kam es zu einem regelrechten Einbruch der Auftragseingänge, die Unternehmen reagierten mit Stellenstreichungen. Nach Angaben der Handelskammer sind in Hamburg 2017 mehr als 1000 Arbeitsplätze im Sektor der Erneuerbaren Energie verloren gegangen. Gut 200 Experten kommen am Dienstag in Hamburg zusammen, um bei einer Konferenz über die Chancen und Risiken der Windenergie auf dem Meer (Offshore) zu diskutieren – daher bietet das Abendblatt eine Bestandsaufnahme der Lage in der Windbranche.


Was ist der Hintergrund der Krise?
Im Mai 2016 leitete Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) eine Wende in der Energiepolitik ein: Gemäß der Neu­fassung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) erhielten die Betreiber von Windkraftanlagen von 2017 an weniger Geld für eingespeisten Strom. Bei den Anlagenherstellern führte das zu kräftigem Preis- und Wettbewerbsdruck – schließlich rangiert Deutschland weltweit unter den Top-5-Staaten im Hinblick auf die installierte Windenergie-Leistung. Zwar hatte Gabriel mit der Gesetzesnovelle wohl vor allem das Ziel im Blick, Fördergeld zu sparen und damit die Kosten der Energiewende zu senken. Doch die Bundesregierung folgte auch einer Vorgabe der EU-Kommission aus dem Jahr 2014. Diese drängte auf eine vollständige Integration der Windenergie in den Strommarkt und verlangte ein auf Wettbewerb basierendes Förderniveau. Das funktioniert in der Praxis so: Diejenigen Betreiber, die die niedrigsten Einspeisevergütungen vom Staat verlangen, haben die besten Chancen, bei den Ausschreibungen für neue Windpark-Projekte zum Zuge zu kommen. Immer mehr Länder in Europa und auf anderen Kontinenten stellten auf das Verfahren um.


Wie wichtig ist der Standort Hamburg?
In der Metropolregion arbeiten laut Hamburg Marketing rund 25.000 Menschen in etwa 1500 Firmen der regenerativen Energiewirtschaft, größtenteils im Wind-Sektor. Führende Anlagenhersteller wie Nordex, Senvion, Siemens Gamesa, Dong Energy oder Vestas haben hier entweder ihren Hauptsitz oder eine starke Repräsentanz. Auf dem Gelände der Hamburg Messe findet im September die WindEnergy statt, die als Weltleitmesse der Branche gilt.


Wie wirkt sich die Krise auf Jobs aus?
Im September 2017 kündigte Nordex an, bis zu 500 der weltweit 5200 Arbeitsplätze bis zum Jahresende abzubauen. Das Sparprogramm wirkte sich auch in Hamburg aus, hier sank die Zahl der Stellen um rund 50 auf gut 980. Senvion beschloss im März 2017, 780 von weltweit 4900 Arbeitsplätzen zu streichen, davon 730 in Deutschland. Dies geschah hauptsächlich durch die Schließung von Werken in Schleswig-Holstein, Brandenburg und Bremerhaven. In Hamburg verringerte sich die Belegschaft um knapp 60 auf 550 Personen. Siemens Gamesa – das Unternehmen gehört zu 59 Prozent dem Münchner Elektro­konzern – hat zwar seinen Hauptsitz in Spanien. Die Firma ist aber aus der Siemens-Windkraftsparte hervorgegangen, die aus Hamburg heraus geführt wurde. Noch immer hat Siemens Gamesa nach eigenen Angaben rund 800 Beschäftigte in der Hansestadt, vor allem für das Offshore-Geschäft. Im November teilte die Firma mit, man wolle 6000 von weltweit 26.000 Jobs abbauen, weil der Umsatz einbricht. Einer Betriebsräteumfrage der IG Metall aus dem vorigen Jahr zufolge sind Betriebe, die vorrangig im Offshore-Bereich tätig sind, tendenziell weniger stark durch den Arbeitsplatz­abbau in der Branche betroffen.


Wie reagieren Hersteller zudem?
Zwar haben alle drei in Hamburg stark vertretenen Hersteller im vorigen Jahr deutlich an Umsatz eingebüßt – das Minus lag zwischen neun und 14 Prozent. Doch Nordex meldete für das erste Quartal 2018 am Donnerstag überraschend einen kräftigen Anstieg des Auftragseingangs: Gemessen an der Erzeugungskapazität der Anlagen kletterte er von 368 Megawatt auf gut 1000 Megawatt. Zwar konzentriert sich Nordex klar auf Windturbinen an Land (On­shore), hat aber zuletzt den Anteil des Amerika-Geschäfts deutlich ausgebaut. Wie auch die Wettbewerber setzt das Unternehmen auf immer größere Turbinen: Anlagen mit Rotordurchmessern von 140 und 149 Metern sollen die Stromerzeugungskosten weiter senken. Ein Ende der Flaute im Heimatmarkt erwartet Nordex aber erst ab 2020. Senvion hingegen ist auch im Offshore-Sektor aktiv. Durch die Werksschließungen in Deutschland und die Verlagerung der Produktion ins kostengünstigere Ausland will die Firma nicht nur billiger anbieten, sondern auch näher an die internationalen Kunden heranrücken – etwa durch ein neues Werk in Indien. Denn China und Indien gelten in der Branche als Wachstumsmärkte, Senvion ist dort aber bisher relativ schwach vertreten. Außerdem will Senvion im Hinblick auf die Stromerzeugungskapazität der Offshore-Anlagen künftig in den Bereich oberhalb von zehn Megawatt vorstoßen. Siemens Gamesa ist nach eigenen Angaben der weltweit zweitgrößte Anbieter von Windturbinen hinter der dänischen Vestas-Gruppe, hat zuletzt aber Marktanteile an diese verloren. Das will man durch das massive Sparprogramm korrigieren. Verglichen mit Nordex und Senvion ist Siemens Gamesa stark im Offshore-Bereich tätig, zudem ist die Firma in Asien und Amerika bereits viel stärker vertreten. Im Hinblick auf die Kapazität der aktuell verkauften Anlagen rangiert Siemens Gamesa mit acht Megawatt nur knapp hinter Vestas.


Welches Potenzial hat Windenergie?
Die Weltenergiebehörde IEA erwartet, dass sich der Anteil der Windkraft am globalen Energiemix von vier Prozent 2016 auf 17 Prozent im Jahr 2040 mehr als vervierfacht. Potenziell ist die Energieausbeute von Offshore-Anlagen höher. Dafür sorgen die starken und stetig wehenden Winde auf hoher See, außerdem entfallen hier die Proteste von Anwohnern gegen immer größere Turbinen. Doch bisher ist der Ausbau von Offshore-Windparks hinter den Prognosen zurückgeblieben, weil die Anfangsinvestitionen für die Errichtung der Anlagen fernab der Küste hoch sind. Dennoch haben 2017 mehrere Offshore-Windparkbetreiber in Ausschreibungen angeboten, ohne Förderung auszukommen. Damit wäre die Windenergie gegenüber konventionellen Energie­trägern voll wettbewerbsfähig.


Wie kommen Hersteller aus der Krise?
Aus Sicht der Handelskammer Hamburg sollte die Bundesregierung die Windenergie-Ausbauziele anheben. Denn: „Eine starke Industrie braucht einen breiten Heimatmarkt.“ Ein zu geringer Zubau in Deutschland gefährde die Spitzenposition deutscher Hersteller und Zulieferer im internationalen Wettbewerb. Ähnlich sieht das Meinhard Geiken, Bezirksleiter der IG Metall Küste: „Wir brauchen einen verlässlichen und vor allem deutlich stärkeren Ausbau der Windenergie an Land und auf See.“ Anders seien die Klimaschutzziele nicht zu erreichen, und nur so könne die Energiewende für neue Industrieansiedlungen und Beschäftigung in Norddeutschland sorgen. Auch nach Auffassung von Norbert Schwieters, Branchenexperte bei der Unternehmensberatung PwC, gehören Windenergie-Anlagen auf See zu den sinnvollsten Maßnahmen, um die deutschen Klimaziele zu erreichen. „Eine Anhebung der Ausbauziele wäre aufgrund der bisher erzielten Fortschritte gerechtfertigt“, so Schwieters – und führe zu Effizienzsteigerungen.

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